Paul Austers Roman „Mr. Vertigo“
Es ist nicht das Versprechen, er werde das Fliegen lernen, das den neunjährigen Waisenjungen Walter Rawley dem mysteriösen Meister Yedudi folgen läßt, als der ihn in Saint Louis von der Straße aufliest und von einer glänzenden Zukunft spricht. Es ist der nackte Mangel an Alternativen, und als er drei Jahre später zum ersten Mal eine Handbreit vom Küchenboden abhebt, ist niemand überraschter als er selbst.
Es ist das Amerika der zwanziger Jahre, die Zeit des Charles Lindbergh, und was der mit einer Maschine schafft, das will der junge Walter nur mit seinem Körper leisten. Schon bald kann er über Wasser wandeln, und so kommt, was kommen muss: Auftritte, Tourneen, Ruhm – und schließlich der jähe Absturz. Eine rätselhafte Krankheit zwingt Walter, seine Karriere zu beenden. Später kommt er bei einem Chicagoer Gangstersyndikat unter.
Mit „Mr. Vertigo“ erzählt der amerikanische Romancier Paul Auster die wechselvolle Lebensgeschichte eines Wunderkindes, das schon bald gezwungen sein wird, sein Leben auch ohne Wunder zu meistern. Aber es gelingt dem Autor nicht, diese Geschichte lebendig werden zu lassen.
Gewiß, es passiert viel in dem Roman: Ku-Klux-Klan-Morde und Börsenkrach, Baseball und Weltkrieg, ein Leben zwischen Verbrechen und Marx-Brothers-Filmen. Doch die Handlung erscheint als eine recht beliebige Aneinanderreihung von losen Episoden, und zu selbstherrlich verfügt der Autor über die Wendungen des Schicksals, als daß man ihm bedenkenlos folgen wollte.
Auch die Charaktere können sich nicht immer vom Papier lösen. Zwar lässt Auster seinen Ich-Erzähler Walter im schnodderigsten Gossenjungen-Slang daherschwadronieren, einer fulminanten Mischung aus Pathos, Sarkasmus und prallen Metaphern. Doch zu formelhaft geraten ihm die anderen Protagonisten, zu konstruiert und klischeehaft, und gerade da, wo es Auster um Vielschichtigkeit geht, umkreist er die Personen von allen Seiten, statt ins Schwarze zu treffen.
Wer sich praktische Hilfe von einem Buch erhofft, liegt bei „Mr. Vertigo“ allerdings nicht ganz falsch: Wir alle können fliegen, sagt Auster, wenn es uns gelingt, aus uns herauszutreten. Den Menschen „müssen sich nur gewissermaßen in Luft auflösen.“ Was folgt, ist ein Schnellkurs in Sachen Levitation: Ausatmen, Seele spüren, Augen schließen, und ab die Post: „So geht das.“
Paul Auster, der kürzlich auch als Drehbuchautor für Wayne Wangs Film „Smoke“ in Erscheinung getreten ist, ist ein notorischer Grenzverletzer. Er schreibt Geschichten, um sie umgehend wieder ad absurdum zu führen. Er liebt es, Gesetze außer Kraft zu setzen, jene der Natur wie der Literatur. Er jongliert mit Wahrnehmungen, er ist ein Illusionist, der mit Kategorien wie Realität und Logik ein durchtriebenes Spiel spielt.
Nichts überlässt er dem Zufall: Jede Episode ist Teil eines verborgenen, sich nur langsam offenbarenden Netzes von Beziehungen, eines Systems, in dem Geschichte sich zu wiederholen scheint. Diese Figur der Wiederholung jedoch bleibt einem ständigen Wandel unterworfen, in dem sich Bedeutungen permanent verändern, bis sie aus den Grenzen dieses Systems heraustreten. In seiner raffinierten „New-York-Trilogie“ führte Auster dieses Verfahren zur Meisterschaft. In „Mr. Vertigo“ jedoch ist aus Austers bewährtem Spiel mit Bezügen und Beziehungen ein Kurzschluß geworden und ein Manöver aus Selbstzweck dazu: eine Masche. Auch stete Unberechenbarkeit kann berechenbar werden. Austers vorlauter Held hat eine andere Formel für so etwas: „die Einbahnstraße des Erfolgs.“
Am Ende von „Mr. Vertigo“ verfügt der Ich-Erzähler, sein Bericht solle nach seinem Ableben von seinem Neffen Daniel Quinn veröffentlicht werden – jenem Schriftsteller aus Austers grandioser „New-York-Trilogie“, der dort im übrigen mit einem gewissen Paul Auster verwechselt wird, bevor er sich buchstäblich ins Nichts auflöst. Vermutlich kann der jetzt auch fliegen.
JAN NOEVENTHIEN, April 30, 1996
Paul Auster: „Mr. Vertigo“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt. 320 Seiten, 42 DM.