Vielleicht stimmt der düstere Satz, die Geschichte sei letztlich bloß eine endlose Folge von Verbrechen. Aber welche Rolle spielen die Menschen, die fortwährend Geschichte schreiben, von denen Geschichte handelt: Sind sie Täter, oder sind sie Opfer?
Dieser Frage, die sich nicht erst wieder seit der Goldhagen-Kontroverse stellt, geht Anthony Burgess in seinem Spätwerk »Belsazars Gastmahl« nach. Für Burgess, der mit »Clockwork Orange« einst zu Weltruhm gelangte, ist die Geschichte »im Grunde nur ein einziger brüllender Schlagetot«, der alles unterdrückt und an sich reißt.
Beziehungsreich beginnt er seinen Roman mit dem Untergang der Titanic, dem Symbol moderner Hybris schlechthin: »So unmöglich war es, daß der Dampfer sank, daß er zum Beweis auch gleich nicht genug Rettungsboote dabei hatte.«
David Jones, ein junger walisischer Küchenjunge, überlebt die Katastrophe, und weil er glaubt, daß sein weiteres Leben nicht auf einem Glücksfall fußen dürfe, beschließt er, dem Tod noch eine zweite Chance zu geben und meldet sich freiwillig zum Ersten Weltkrieg. In New York hat er Ludmilla, eine junge Russin, geheiratet, und die so gegründete Familie wird vom weiteren Verlauf des Jahrhunderts reichlich durcheinandergewirbelt.
Ins Bild gesetzt wird diese bewegte Familienchronik von Harry Wolfson, einem »ehemaligen Terroristen und Lehrer der Philosophie«, der mit David Jones’ Kindern befreundet ist und nachzeichnet, wie heiße und kalte Kriege sie quer durch Europa treiben: Bianca Jones, eine kühle, betörende Intellektuelle, Reginald Jones, ein idealistischer Heißsporn, und Daniel Jones, ein mürrischer, etwas naturtrüber Bursche, der zufrieden ist, solange es irgendwo einen Fisch auszunehmen gibt.
Zwei Weltkriege, Osteraufstand in Dublin, Revolution in St. Petersburg, Bürgerkrieg in Spanien, Stalins Säuberungen, die Gründung des Staates Israel: Die Familie Jones erlebt das »verstörende Chaos der Versuche des Menschen, sich selbst eine Ordnung zu setzen.« Alle diese Versuche enden letztlich in Zerstörung, »aber das Alibi des religiösen oder profanen Patriotismus verwandelt die Destruktion in etwas scheinbar Kreatives.«
Die großen und die kleinen Ideologien sind es, die den Menschen zur bloßen Verschiebemasse machen: »Körper sind weitgehend immer dasselbe, aber Seelen nicht. Jetzt sollen die Seelen alle zu Kopien eines einzigen Archetyps zurechtgehämmert werden, den die großen Kollektive vergeben.«
Diese Kollektive verheißen Freiheit, Gerechtigkeit, überhaupt eine bessere Welt. Doch derlei »Romantik wird immer frustriert«, schreibt Burgess, »und dann wendet sie sich der Gewalt zu.«
Wie auf der – pure Ideologie! – unsinkbaren Titanic sind auch in den mannigfaltigen Heilslehren und ihren politischen Systemen Eisberge meist nicht vorgesehen, und wenn das Wasser dann erst einmal in den Schiffsbauch dringt, sind wieder mal zuwenig Rettungsboote an Bord. Von Katastrophen wie diesen erzählt Burgess.
Sind die Menschen also nur Opfer dieser Katastrophen? »Es ist nicht das Volk, es ist nie das Volk«, wird im Buch gesagt, doch ein Freispruch ist das nicht, denn der düstere Einwand folgt auf dem Fuße: »Aber das Volk ist disponibel.« Opferbereitschaft aus gutem Glauben kann nur allzu leicht in Täterschaft enden. Es ist die schwierige Gradwanderung zwischen diesen beiden Polen, die die Protagonisten alle auf ihre Weise versuchen.
»Jetzt, glaube ich, kommen wir endlich zur Sache«, erklärt der Erzähler auf Seite 353. Doch zu kurzweilig ist Burgess‘ Wechselspiel aus Breitwandepos und Detailstudie, als daß man auch nur eine Seite hiervon hätte missen wollen. Mit feiner Ironie ebenso wie derbem Spott übersetzt der Autor Weltgeschichte in die Perspektive der einzelnen Menschen, ohne sie je zu bagatellisieren.
»Belsazars Gastmahl« ist ein eigener kleiner Kosmos voller Zitate, Rätsel und Redeweisen, ein kunstvoll angelegtes System von Binnenbezügen und symbolhaften Anspielungen. Wenn Reginald Jones beispielsweise 1945 mit dem Schiff in Odessa ankommt, erblickt er ein Schlachtschiff im Hafen und eine Frau mit einem Kinderwagen auf der riesigen Freitreppe. Während diese Eisenstein-Reminiszenz an die Oktoberrevolution erinnert, läßt ein paar Meter weiter das Stalin-Regime reihenweise die eigenen Kriegsheimkehrer erschießen.
Dem »Schlagetot« Geschichte tritt Burgess mit den Waffen eines weisen alten Mannes gegenüber: mit großem Charme und Wissen, mit Souveränität und klugem Witz. Unserem gewalttätigen Jahrhundert zeigt er sich damit in jeder Hinsicht gewachsen.
JAN NOEVENTHIEN, Nov. 9, 1996
Anthony Burgess: Belsazars Gastmahl. Klett-Cotta. 445 Seiten. 44 Mark.