Die Liebe in den Zeiten der Prostata: Philip Roths Roman „Sabaths Theater“
Als Morris Sabbath, genannt Mickey, nach fast einem halben Jahrhundert erstmals wieder in seine Heimatstadt an der amerikanischen Atlantikküste zurückkehrt, um sich im Alter von vierundsechzig Jahren das Leben zu nehmen, besucht er ein letztes Mal den alten jüdischen Friedhof, auf dem seine Familie begraben liegt. Seinen eigenen Platz im Familiengrab findet er mittlerweile von einer entfernten Tante aus der Bronx besetzt. In diesem Moment ist er der einsamste Mensch, den man sich vorstellen kann.
Die Szene auf dem Friedhof ist ein Höhepunkt in Philip Roths neuem Roman „Sabbaths Theater“. Die seltsame Verwandtschaft der Tragik mit der Komik findet sich in dieser retrospektiv angelegten Lebensgeschichte auf das Vortrefflichste beschrieben. Sein Leben lang war Mickey Sabbath ein Versager, und schließlich will ihm noch nicht einmal der Selbstmord gelingen. Dieser letzte Akt, von dem er sich noch einen letzten Rest Würde erhofft hatte, verwandelt sich unversehens in einen Teil jener Schmierenkomödie, die sein Leben letztlich immer war.
Aber nicht, wie die Geschichte enden, ob Sabbath sich wirklich umbringen wird, ist die eigentliche Frage des Romans. Sondern wie diese Geschichte eigentlich begonnen hat, wie Sabbath auf diesen Friedhof gelangt ist, von allen Freunden und Geliebten verlassen, mit nichts als dem Geld in der Tasche, das er der Frau seines letzten Freundes Norman gestohlen hat, nachdem auch der ihm den Rücken gekehrt hatte.
Diese Vor-Geschichte legt Roth Schicht für Schicht offen. Die Schmerzen der Gegenwart sind es, die Sabbath immer wieder an die Schmerzen der Vergangenheit erinnern. Souverän läßt Roth den tragischen Helden durch seine Erinnerungen reisen, bis diese mit der Gegenwart zu verschmelzen scheinen und erst so das ganze Ausmaß seines Scheiterns offenbaren.
Mit dem Tod seines geliebten Bruders Morton verliert der pubertierende Mickey jeden Halt. Er geht zur See und verkehrt in den Bordellen der Welt. Schließlich wendet er sich der Kunst zu, gründet in New York „Sabbaths unzüchtiges Theater“ und spielt auf der Straße Puppentheater für Erwachsene. Später wird sich Jim Henson, der Vater der Muppets und der Sesamstraße, vergeblich darum bemühen, Sabbath für die Rolle des Bibo zu gewinnen.
„Puppen können fliegen, schweben, kreiseln, nur Menschen und Marionetten müssen sich aufs Laufen und Gehen beschränken.“ Beschränkung ist aber nicht die Kunst des Mickey Sabbath, und so versucht er ein Leben zu führen wie seine Puppen: ein unmögliches Leben ohne die Schwerkraft, die all die Regeln und Konventionen gemeinhin ausüben, ein fliegendes, schwebendes Leben, das die bürgerlichen Marionetten vor den Kopf stößt – besonders darauf legt er größten Wert.
Doch die Arthritis bereitet dem alternden Puppenspieler ein doppeltes Ende: Nicht nur muss er seine Kunst aufgeben; ohne diese Kunst holt ihn die weltliche Schwerkraft auf den Boden der Tatsachen zurück, und sein Leben der Ausschweifung und Provokation gerät zum Scherbenhaufen.
Sein weiterhin ungebremstes sexuelles Verlangen, die Liebe in den Zeiten der Prostata kostet ihn seine zweite Existenz: Einen Lehrauftrag, den Sabbath nach seinem künstlerischen Aus erhalten hatte, verliert er wegen einer Affäre mit einer Studentin, die sich zum handfesten öffentlichen Skandal auswächst. Sabbaths alkoholkranke Frau wird nach einem Zusammenbruch in die Nervenheilanstalt eingewiesen und seine Geliebte Drenka erliegt dem Krebs. Nun beginnt der Absturz, der Sabbath tagsüber bald in der U-Bahn betteln und nachts das Grab der Geliebten schänden lässt.
Sabbaths „despotischer Narzißmus“, seine „sardonische Intelligenz“ sind mehr, als die Menschen um ihn herum ertragen können: „Sabbath liegt nichts daran, Menschen mehr leiden zu lassen, als er sie leiden lassen wollte; er wollte sie auf keinen Fall mehr leiden lassen, als es zu seinem Wohlbefinden nötig war.“ Doch diese merkwürdige Form der Rücksichtnahme dankt ihm niemand. Jetzt, so sagt ihm Norman beim letzten Abschied, fahre er die einsame Ernte seines zügellosen Lebens ein. Zuvor hat Sabbath sich vor Normans Frau entblößt und die Unterwäsche seiner Tochter mitgehen lassen.
Wenn man Philip Roths großartigen Roman liest, mag man mitunter kaum glauben, daß ein Mann immer noch tiefer sinken kann. Sabbath kann es. Und trotzdem, „ja, ja, ja“, empfindet er eine ungebrochene „hemmungslose Zärtlichkeit“ für sein Leben.
„Geliebter Hurenbock, Verführer, Sodomit, Frauenschänder, Zerstörer der Moral, Verderber der Jugend, Gattenmörder, Selbstmörder“ – diese Inschrift wünscht sich Sabbath für seien Grabstein. Seine Lebensbilanz erfüllt ihn trotz allem doch auch mit Stolz, denn immerhin ist ihm etwas sehr seltenes gelungen: Ein Leben ganz nach den eigenen Vorstellungen zu leben, in seinem Fall ein Leben aus Schmutz, Provokation und hemmungslosem Sex. Ein bürgerliches Leben hat Sabbath niemals angestrebt, und diesem Vorsatz treu zu bleiben, ist bislang noch den wenigsten gelungen.
JAN NOEVENTHIEN, 3. Mai 1997
Philip Roth: „Sabbaths Theater“. Hanser. 491 Seiten, 49,80 DM