„Die Reichen können Globetrotter werden, aber wer kein Geld hat, wird Hobo.“ Hundertausende Männer und Frauen ziehen Anfang des Jahrhunderts kreuz und quer durch Amerika, als Schwarzfahrer und per Anhalter, auf der Suche nach Arbeit oder aus reiner Abenteuerlust: Hobos und Tramps, Tagelöhner und Landstreicher, die die Armut ebenso treibt wie die Angst vor der Seßhaftigkeit und der Anpassung, die ein seßhaftes Leben bedeutet.
Bertha Thompson ist Hobo-Kind, ein Produkt der freien Liebe in den Nachtlagern der Reisenden. Als Sechzehnjährige befällt sie selbst die Sehnsucht nach dem nomadischen Leben in Güterzügen und Notherbergen, und so macht sie sich mit den besten Wünschen ihrer Mutter auf den Weg, um für die nächsten fünfzehn Jahre Amerika auf eigene Faust kennenzulernen. Ihre Erinnerungen hat sie Ben L. Reitman erzählt, dem berühmten „Anarchistenarzt“, der daraus den bewegenden Bericht „Boxcar Bertha“ gemacht hat.
Mal schließt sich Bertha einer Diebesbande an, mal arbeitet sie als Prostituierte. Sie engagiert sich in sozialistischen und anarchistischen Gruppen und kämpft für die Einrichtung von Hobo-Colleges und Tramperherbergen. Doch lange hält sie es nirgendwo aus: „Irgend etwas in meinem Inneren stachelt mich ständig auf, und nur wenn ich unterwegs bin, ist es befriedigt. Arbeit, Liebhaber, ein Kind – alles das kommt offenbar nicht gegen meine Wanderlust an.“ Bertha kommt es vor, als sei sie „mit dem Güterwagen verheiratet.“
Ihre Autobiographie ist voller spannender Geschichten und schillernder Persönlichkeiten, allerdings mit einer gehörigen Portion Pathos dargeboten. In das ungewöhnliches Nebeneinander von romantische Verklärung und eingestreuten Statistiken schleicht sich immer wieder eine Rhetorik der nachholenden Rechtfertigung, doch auch dies macht „Boxcar Bertha“ zu einem aufschlußreichen Dokument einer bewegten Zeit.
von JAN NOEVENTHIEN
Ben L. Reitman: „Boxcar Bertha. Eine Autobiographie“. rororo. 295 Seiten, 14,90 DM