Dieses Leben ist zu gut, um eine Wahl zu lassen

Das ausweglose, erschöpfte Glück: James Salters großer Roman „Lichtjahre“

„Das Schöne schwindet, scheidet, flieht ― / fast tut es weh, wenn man es sieht“, hat Robert Gernhardt über das Vergängliche geschrieben. Dem Vollkommenen scheinen Scheitern und Verfall immer schon miteingeschrieben zu sein. In seinem Roman „Lichtjahre“ erzählt der große amerikanische Erzähler James Salter von einer augenscheinlich perfekten Familie, die schleichend und unaufhaltsam auseinanderfällt.

Viri und Nedra Berland, ein sensibiler Architekt und seine schöne, intelligente Frau, erleben wunderbare Jahre in einem wunderbaren Haus, das sich langsam mit kleinen, wunderbaren Dingen füllt. Es sind Jahre voller geistreicher Parties und Dinners mit alten Freunden, und durch den großen Garten am Fluß toben zwei außergewöhnliche Töchter.

Diese Jahre scheinen durchdrungen von Licht, von Wärme und milden Farben. Doch das Idyll wird zur Falle: Gerade weil es so vollkommen und harmonisch ist, erscheint es vollkommen ausweglos. Dieses Leben ist zu gut, um eine Wahl zu lassen. Es macht satt und seßhaft und unfrei.

„Ereignisse brauchen eine Einladung, Zerfall einen Anfang“, heißt es in Salters Bericht. Im Fall von Viri und Nedra scheint dieser Anfang bereits die Hochzeit gewesen zu sein. Damals, so erscheint es Viri mittlerweile, wurde Nedra von der begehrten Geliebten „zu seiner nächsten Verwandten. Sie verpflichtete sich seinen Interessen und widmete sich ihren eigenen. Die verzweifelte, unerträgliche Liebe verschwand, und an ihre Stelle trat eine junge Frau von zwanzig Jahren, die dazu verurteilt war, mit ihm zu leben.“

Überhaupt scheint das, was die Stärke der Familie ausmacht, zugleich ihr krisenhaftes Moment zu sein, wie Salter feststellt: „Es gibt Wärme in Familien, aber selten Freundschaft.“ Es ist diese Wärme, die die Familie von innen faulen und modern läßt. Das ausweglose Glück weckt ungeahnte Sehnsüchte. Sie bleiben unaussprechbar, denn sie weisen über die Familie hinaus, und jeder bleibt mit ihnen allein. „Im Grunde gibt es, wie Viri sagt, zwei Arten von Leben. Es gibt das, von dem die Leute glauben, daß man es lebt, und es gibt das andere. Es ist dieses andere, das Probleme macht, dasjenige, das wir gerne zu Gesicht bekommen würden.“

Viri träumt von Dingen, „die sich, befürchtete er, nie erfüllen würden. Er wog sein Leben oft ab. Aber er war noch jung, die Jahre erstreckten sich vor ihm wie endlose Ebenen.“ Nedra erlebt insgemeim den gleichen Zwiespalt. Sie fühlt sich zerrieben „zwischen dem, was man nicht tun kann, und dem, was man tun muß. Man wird zu Staub.“

Vor diesem Hintergrund wird Zeit zum Feind und Alter, diese „Anarchie der Zellen“, zur Bedrohung, weil jeder dieser schönen Tage nur ein weiterer verlorener sein kann. Nach dem Tod ihres Vaters, der von Salter so nüchtern wie unumstößlich als Wendepunkt inszeniert wird, entscheidet sich Nedra gegen die Familie und für die Freiheit. „Die Freiheit, die sie meinte, bedeutete Selbstüberwindung. Es war kein natürlicher Zustand. Er war nur für jene bestimmt, die alles dafür aufs Spiel setzen, die wußten, daß das Leben ohne Selbstüberwindung nur ein Fressen war, bis einem die Zähne ausfallen.“

Die Kinder sind erwachsen geworden, man schlägt getrennte Wege ein. Doch auch die neue Freiheit bringt kein Glück, die ebenso schönen wie unmöglichen „Lichtjahre“ bleiben der unauslöschliche Fluchtpunkt, auf den alle neuerlichen Bewegungen zurückweisen. Das Idyll wird von der Falle zum Fluch.

Mit den „Lichtjahren“, die 1975 erschienen sind und vom Berlin-Verlag in diesem Jahr in ausgezeichneter Übersetzung erstmals auf den deutschen Markt gebracht wurden, erweist sich Salter als großer Stilist und Erzähler, als wahrer Meister des Stimmungsspiels, des Atmosphärischen. Assoziativ und andeutungsreich, als wolle er dem Baustellencharakter des Lebens eine Form geben, seziert er das erschöpfte Glück. Mit luzider Beobachtungsgabe offenbart er eine Fülle verräterischer Details, die Schicht für Schicht den verborgenen Selbstzerstörungsmechanismus des Idylls zutagetreten lassen, während im Rhythmus ebenso karger wie poetischer Sätze das Leben als ein langer, ruhiger Fluß erscheint.

Man darf allerdings nicht verschweigen, daß Salter ein ums andere Mal allzu hart an der Kitschgrenze entlangpilchert. Nahezu obsessiv entwirft er immer neue Idyllenbilder, um sie dann sogleich mit unheilvollem Raunen, Zweifelsträumen und Todesahnungen wieder infragezustellen. Sein Stil ist weithin brillant, doch das Prinzip bald ausgereizt.

Und dennoch gelingt Salter die eindrucksvolle Beschreibung einer Dialektik des Glücks. Je näher man ein Wort anschaut, hat Alexander Kluge gesagt, desto ferner schaut es zurück. Mit der Suche nach dem Glück scheint es hier nicht anders zu sein. Viri und Nedra flüchten mal zueinander, mal voreinander, sie erleben Treue und suchen Affären, doch bleibt ihnen nichts als jene Heimatlosigkeit, wie Baudelaire sie beschrieb: Immer nur dort glücklich zu sein, wo man nicht ist.

JAN NOEVENTHIEN (veröffentlicht am 30.11.1999)

James Salter: „Lichtjahre“. Aus dem Amerikanischen von Beatrice Howeg. Berlin Verlag. 392 Seiten, 39,80 Mark.

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