Ein zivilisatorischer Millennium Bug: Janette T. Hospitals „Oyster“
Outer Maroo ist ein Ort mit düsterer Vergangenheit und ohne Zukunft. Ein Dorf im Hinterland Australiens, bevölkert von einer Handvoll Viehzüchtern und Opalschürfern. Ein Dorf, das untergetaucht ist, auf keiner Karte verzeichnet, vom Postweg abgeschnitten, den Schul- und Steuerbehörden unbekannt. Wen es hierher verschlagen hat, der bleibt für immer, oder ein rascher Unfall verhindert die Rückkehr auf die Landkarte.
Was dieses Dorf zusammenhält, sind Profitgier und Paranoia. Das einzige, was von hier nach außen dringt, sind kostbare Opale, und alles, was außer Geld von draußen kommt, kann von der abgeschotteten Gesellschaft Outer Maroos nur als existenzielle Bedrohung begriffen werden: der verhasste Staat, die verachteten Aborigines und nicht zuletzt das Jahr 2000. Bis an die Zähne bewaffnet bereitet man sich auf das Armageddon vor, das der Sektenführer Oyster prophezeit hat.
Der Weltuntergang bleibt aus, doch das Dorf läuft ins Verderben. Der Irrsinn, der aus religiösem Fanatismus wächst, die Brutalität, die der Raffgier dient und das Schweigen, das die Skrupel lautstark überdeckt: All das führt zum Zusammenbruch einer hermetischen Gesellschaft, in der die „herkömmliche Logik nicht gilt“ und das Gewissen nur als Phantomschmerz überlebt.
Umgeben von vermeintlichen Feinden, in sengender Hitze, Staub und Dunst, am Vorabend der Jahrtausendwende sehen „die Menschen mit den Augen des Verrückten.“ In Outer Maroo „manifestiert sich religiöser Affekt auf ebenso erschreckende wie erhabene Weise“, und der Wahnsinn erzeugt seine „eigene Welt“, einen „eigenen Raum“, in den „andere eintreten können“. Diesen zwielichtigen Raum macht Janette Turner Hospital in ihrem Roman „Oyster“ zugänglich. Was sie beschreibt, ist ein zivilisatorischer „millenium bug“, der zwar kein Computerprogramm zum Absturz bringt, aber ein religiöses Wahnsystem kollabieren lässt.
Janette Turner Hospital gelingt das Kunststück, diese Geschichte zusammenzufügen, indem sie sie zugleich zersplittert. Im Grunde sei es gleich, ob „man nun eine Geschichte erzählt oder eine Landkarte zeichnet“, lässt sie eine Protagonistin notieren. Es sei, „als schleudere man einen Stein auf eine Fensterscheibe: Von der Aufprallstelle breiten sich die spinnwebartigen Risse fächerförmig nach allen Richtungen aus.“
Ganz ähnlich erzählt sie ihren Roman. In „Oyster“ fügen sich mehrere Perspektiven, die alle ihre eigenen Stimmen und Sprechweisen finden, in einer engverwobenen Struktur aus Vor- und Rückblenden zusammen zu einer Collage der Wahrnehmungen, zur lebendigen Anti-Chronik eines kollektiven freak-outs.
Das literarische Verfahren ist nicht allzu neu, und die Offensichtlichkeit, mit der sich die Handlung als Allegorie auf die einschlägigen zivilisatorischen Sündenfälle der Geschichte lesen lässt, überlagert leider die Subtilität, mit der Turner Hospital einfühlsam die Sichtweisen der Protagonisten entfaltet und aufeinanderzustreben lässt.
Gerade hier liegt aber die große Stärke des Romans: Es sind drei Frauen, die sich den „ungeheuer dehnbaren und gleichzeitig unendlich strengen“ Regeln Outer Maroos widersetzen. Die Perspektiven von „Old Silence“ Jess, von Mercy Given und Sarah Cohen, sie könnten unterschiedlicher kaum sein, doch die Konsequenzen, die jede für sich zieht, sind die entscheidenden Keile, die das Wahngebilde männlicher Allmachtsphantasien schließlich zerbersten lassen.
Die abgebrühten Opalhändler, die so gottesfürchtig über Leben und Tod richten, sie erscheinen plötzlich als „Clowns, Marktschreier, Verkleidungskünstler, Wahnsinnige, Magier, Monster; vor allem aber Clowns. Sie sind lächerlich.“ Die Entzauberung ihres Systems vollzieht sich im vielschichtigen Innenleben der Protagonistinnen. Hier wird Vergangenes aufbewahrt und lebt Totes weiter, hier treten Gedanken als „Heckenschützen“ auf und formen sich zu neuen Erkenntnissen, hier liegt das fragmentierte Zentrum des Romans.
Es bleibt die Frage, inwieweit die Protagonistinnen dem moralischen Extremsport in exotischer Landschaft ausgesetzt werden mussten, um pünktlich und ausgerechnet zum Y2K-Debakel ihre Stimmen zu finden. Doch diese Stimmen, die Turner Hospital so eindringlich zum Sprechen bringt, klingen noch lange nach, nachdem die Geschichte vorüber ist – auch auf unserem Teil der Landkarte.
JAN NOEVENTHIEN (veröffentlicht am 31.10.2000)
Janette Turner Hospital: „Oyster“. Deutsch von Maria Mill. DuMont. 413 Seiten, 48 Mark.