Was Schröder und Stoiber aus den amerikanischen Fernsehduellen lernen können.
Dass er die Sozialversichung erfunden habe, das sollte Gerhard Schröder besser nicht behaupten, wenn er am 25. August im ersten Fernsehduell auf seinen Herausforderer Edmund Stoiber trifft. Mit ähnlichen Selbstbeweihräucherungen hatte sich vor zwei Jahren Al Gore um die US-Präsidentschaft geredet: das Internet gehe auf seine Kappe, verkündete er mit ernstem Gesicht. Doch zu viel Eigenlob schätzt der Wähler nicht, jedenfalls nicht an Politikern, und schon gar nicht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Dass sich demonstrative Bescheidenheit im Wahlkampf allerdings ebenso wenig auszahlt, gehört zu den Widersprüchen, die Schröder und Stoiber bald auch im direkten Vergleich aufzulösen haben. Wem dies am besten gelingt, der hat auch gute Chancen, nach dem 22. Oktober die Regierung zu stellen.
Das direkte Duell ist ein neues Instrument im Werkzeugkoffer der deutschen Wahlkämpfer, die ihre Gegner oft nicht beim Namen nennen, sondern lieber von „den Anderen“ reden. Richtig ausprobieren konnte es noch keiner, entsprechend hoch ist die Gefahr für Kandidaten und Berater, irgendwo eine falsche Schraube anzuziehen und bleibenden Schaden im Kampagnen-Getriebe anzurichten.
Bislang galt das ungeschriebene Gesetz, dass Fernsehdebatten für den Amtsinhaber mehr Risiken und weniger Chancen bedeuten als für den Gegenkandidaten. Gerhard Schröder ist der erste Kanzler, der die Herausforderung zum Duell dennoch angenommen hat. Seine Virtuosität vor laufenden Kameras ist für die SPD-Strategen die „Silberkugel“ in der Auseinandersetzung mit Stoiber und scheint ihnen die damit verbundenen Risiken offenbar wert. Allerdings wurde auch Al Gore ein großer Erfahrungsvorsprung auf der nationalen Medienbühne attestiert – genutzt hat er ihm am Ende nicht.
Beim Fußball entscheiden oft individuelle Fehler über den Ausgang eines Spiels, bei Fernsehduellen ist es nicht anders. „Kandidaten verlieren Debatten, sie gewinnen nur selten“, sagt Ron Faucheux, Chefredakteur des US-amerikanischen Wahlkampf-Fachblatts Campaigns & Elections. Dass 1960 dem haushohen Favoriten Nixon im Duell gegen seinen jugendlichen Herausforderer Kennedy die Felle auf einem Strom von Schweiß davongeschwommen waren, ist Legende. Heute haben die Kandidaten in den USA ihre eigenen Kosmetiker und Modeberater, selbst die Krawatte wird passend zur Botschaft gewählt. Die Debatten werden im eigenen Lager minutiös geprobt, und vor dem Showdown hakeln die Medienstrategen der Kombattanten über Bühnenbild, Beleuchtung und Kameraeinstellungen. Alle Risikofaktoren sollen ausgeschaltet werden, doch eine Unwägbarkeit wird immer bleiben: der Kandidat.
Bei den Fernsehdebatten des Präsidentschaftswahlkampfs 2000 wartete ganz Amerika auf einen verhehrenden Lapsus George W. Bushs. Statt dessen verlor Al Gore das Duell wegen seiner offenkundigen Streberattitüde. Vernehmliches Seufzen bei den Aussagen seines Kontrahenten und schließlich sogar Verbesserungen bei dessen Aussprache waren den Amerikanern zuviel. Bushs Vater wiederum machte acht Jahre zuvor gegen Bill Clinton keine gute Figur, als er während dessen Statements demonstrativ auf die Uhr sah. Gore wie Vater Bush versuchten letztlich erfolglos, aus bekannten Schwächen ihrer Konkurrenten – mangelnde Erfahrung, Langatmigkeit – politisches Kapital zu schlagen.
Die Arroganz des Amtsinhabers, die zeigen soll, dass der Herausforderer nicht in der gleichen Liga spielt, ist also wenig hilfreich, und Gerhard Schröder, der sein ungebremstes Selbstbewusstsein wie kaum ein zweiter selbst in kleinsten Gesten und Pointen ausspielen kann, ist gut beraten, sein Ego an der kurzen Leine spazieren zu führen.
Doch auch Edmund Stoiber kann von Al Gores Scheitern lernen. Mit langen Zahlenkolonnen wird er zwar den Eindruck erzielen können, er habe seine Hausaufgaben gemacht. Um zum Klassensprecher gewählt zu werden, wird das allein nicht reichen. Zugleich kann er aber einen Vorteil nutzen, der auch Gores Herausforderer George W. Bush half: Weil die Erwartungen an den Texaner zuvor so gering waren, fiel es ihm leicht, sie zu übertreffen. Wer weiß, wozu Stoibers haspeliger Auftritt bei Sabine Christiansen noch einmal gut gewesen sein könnte.
Eine neue Studie der Universität Maryland und des Pew Charitable Trusts bestätigt dies. 92 beziehungsweise 85 Prozent der amerikansichen Wähler halten demnach Kompetenz und Positionierung in Sachfragen für die entscheidenden Faktoren für den Ausgang einer Fernsehdebatte. Nur 16 Prozent goutieren einen aggressiven Umgang mit dem Gegenüber. 70 Prozent halten Ruhe und Selbstbeherrschung für wichtig, deutlich weniger Gewicht haben die rhetorischen Fähigkeiten (58 Prozent) und die äußere Erscheinung der Kandidaten (26 Prozent).
Diese Selbsteinschätzung des amerikanischen Wählers dürfte wohl ein wenig idealisiert sein. Al Gores Kompetenz und Erfahrung wurden nie in Frage gestellt, aber sein allzu ausführlich zur Schau gestelltes Fachwissen hat ihm am Ende eher geschadet. Die kniffelige Frage lautet also: Wie vermittelt man den besten Eindruck von Sachkompetenz in kurzen Statements, ohne den Wähler zu langweilen oder ihm vor den Kopf zu stoßen? Und wie hält man seinen Gegner in der Defensive, ohne diesen allzu grob anzugehen?
Bill Clintons legendärer Wahlkampfberater James Carville empfiehlt seinen Kunden einen rhetorischen Dreisprung: „Answer – Attack – Explain“. Nichts sei verhehrender als der Eindruck, sich um die Antwort auf eine Frage zu drücken. Die Antwort müsse aber kurz sein, eine lange analytische Herleitung bleibe ohnehin nicht in Erinnerung. Danach solle man zum Angriff blasen, und erst wenn einem dann immer noch nicht das Wort abgeschnitten wurde, könne man noch etwas Sachkompetenz demonstrieren.
Für Faucheaux ist vorausschauendes Denken das Kriterium, das Gewinner von Verlierern unterscheidet: „Sag etwas, antizipiere den Gegenschlag deines Rivalen und plane deine Antwort darauf.“ Eine nicht gekonterte Attacke wirkt meist schwerer als ein eingefahrener Pluspunkt. Hilfreich sei auch ein starker Start: „Die Kandidaten sollten mit ihren ersten Worten die zentrale Frage des Wahlkampfes und ihre Gegensätze klar umreissen.“ Nachdem sie so den Boden für ihre großen thematischen Botschaften bereitet haben, sollten sie im Verlauf der Debatte immer wieder auf diese zurückkommen. „Hammering a message home“, nennt man das in Amerika.
Niemand weiß, wie die beiden Schröder-Stoiber-Duelle ausgehen werden und ob sie die politische Kultur in Deutschland eher voranbringen oder zurückwerfen werden. In den USA halten mittlerweile rund 20 Prozent der Wähler Fernsehdebatten für die beste Informationsquelle über die politischen Vorstellungen der Kandidaten, ergab die Studie der Universität Maryland. Nur Fernsehnachrichten und Zeitungsartikel stehen mit je 24 Prozent besser da. Werbespots, die im Gegensatz zu Fernsehdebatten den größten Teil der millionenschweren Wahlkampfetats ausmachen, schneiden mit drei Prozent hingegen deutlich schlechter ab.
Dass man in Deutschland künftig wieder auf Duelle dieser Art verzichten kann, ist unwahrscheinlich. Einmal eingeführt, entfalten die Debatten ihre eigene Dynamik. Ein Kandidat, der den direkten Vergleich scheut, muss sich den Vorwurf der Schwäche gefallen lassen. Mehr als die Hälfte der befragten Amerikaner gab an, es könne sich nachteilig auf ihre Wahlentscheidung auswirken, wenn ein Kandidat das Duell verweigere. Als der alte Bush zögerte, die Klingen mit seinem Herausforderer Clinton zu kreuzen, enterten Clinton-Anhänger in Geflügel-Kostümen die Veranstaltungen der Republikaner und verspotteten den Präsidenten als „Chicken George“, als feiges Huhn. Der konterte erst mit müden Witzen über Guppys – und stimmte dann den Debatten zu.
JAN NOEVENTHIEN, August 2002