Das eigentliche Rätsel dieses Wahljahres

Die Republikaner haben aus ihrer Niederlage bei den Kongresswahlen 2006 nichts gelernt – und auch keine Lehren aus dem spektakulären Niedergang Hillary Clintons gezogen. Vor allem deshalb wird John McCain bei den heutigen Präsidentschaftswahlen gegen seinen Herausforderer Barack Obama verlieren.

Die US-Demokraten gelten als ängstlich-verzagte, notorisch undisziplinierte und chronisch unterfinanzierte Wahlkämpfer. Umso überraschender ist es, wie deutlich Barack Obamas Kampagne den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf dominiert hat. Die Demokraten deklassierten ihre republikanischen Gegenspieler auf allen Feldern, auf denen die GOP über viele Jahren haushoch überlegen war: Fundraising, Microtargeting, Organisation und das so genannte GOTV, die Wählermobilisierung.

Selbst als der Wahlkampf schmutzig wurde, reagierte das Obama-Team – anders als andere demokratische Präsidentschaftsanwärter zuvor – so souverän, diszipliniert und bretthart, dass die Attacken letztlich auf den Angreifer zurückfielen. Gleiches gilt für die unerwartet heftig hereingebrochene Wirtschaftskrise, in der ebenfalls sofort der richtige Ton gefunden wurde. Zugleich konnte vermieden werden, dass kleinere Schwächen (etwa die Haltung zum Iran, die Reaktion auf den Georgien-Konflikt sowie ein schwacher Bowling-Nachmittag) zu zentralen Themen wurden. Dieser Demokraten-Wahlkampf spielte deshalb in einer ganz anderen Liga als etwa die von der berüchtigten Berater-Legende Bob Shrum zusammengezimmerten Kampagnen für Al Gore und John Kerry ― von Michael Dukakis’ gescheitertem Anlauf ganz zu schweigen.

Barack Obama haben nicht nur seine Botschaft des Wandels, die Unbeliebtheit des amtierenden Präsidenten und die ökonomische Krise nach vorne geholfen. Er hat die gefürchtete republikanische Wahlkampfmaschine auch in ihrem ureigenen Spiel geschlagen. Dass man ― finanziert durch nie geahnte Fundraising-Rekorde ― John McCain selbst in Staaten wie North Dakota, Georgia oder Arizona in die Defensive und damit zum Splitten seiner Ressourcen zwingen konnte (McCain musste bereits Teile seiner Wahlkampf-Infrastruktur vorzeitig abwickeln, um mehr Geld für Fernseh-Werbespots zu erlösen), ist nicht allein durch rhetorische Kraft oder eine wolkige Vision zu erklären. Obamas Leute haben die Republikaner organisatorisch, finanziell und strategisch überrollt.

Dass die Republikaner sich haben derart überrollen lassen, verwundert umso mehr, als alle Qualitäten der Obama-Kampagne bereits in den demokratischen Primaries zu bestaunen waren. Tatsächlich war die von Spenden und Kontakten getriebene Politik-Maschine von Hillary Clinton deutlich schwerer zu schlagen als nun die McCain-Kampagne, doch gelang dies letztlich mit den gleichen Mitteln, an denen sich die McCain-Manager Steve Schmidt und Rick Davis bis heute die Zähne ausgebissen haben.

Clinton wurde von der Wucht der Obama-Welle überrascht und war gehandicapt durch ihre eigene Organisation, die aufgrund interner Streitigkeiten und einer ebenso widersprüchlichen wie fehlerhaften Wahlstrategie nie zur vollen Schlagkraft gelangte. Dass ihr Wahlkampf-Chef Mark Penn nicht einmal die Regeln der Delegiertenverteilung der demokratischen Partei verstanden hatte, darf inzwischen als gesichert gelten. Warum allerdings auch die Republikaner trotz aller Vorwarnungen bis zuletzt keine schlagende Antwort auf die Obama-Kampagne gefunden haben, ist das eigentliche Rätsel dieses Wahljahres.

Gefeiert für den Obama-Wahlkampf werden vor allem David Axelrod als Medienstratege und David Plouffe als Wahlkampfmanager, dem zuzuschreiben ist, dass eine rasant wachsende Organisation mit einer in der Demokratischen Partei nie dagewesenen Disziplin und Präzision agiert. Hinzu kommt Steve Hildebrandt, der mit einer milimetergenau ausgetüftelten Vorwahlstrategie die Grundlage dafür geschaffen hat, die scheinbar unschlagbare Hillary Clinton aus dem Rennen zu kegeln. Und nicht zu vergessen ein Fundraising-Team, dass die amerikanische Wahlkampffinanzierung von Grund auf umgekrempelt hat.

Man sollte sich jedoch davor hüten, die Obama-Kampagne nun als einen Solitär abzutun, eine Naturgewalt, wie sie hin und wieder mal über die politische Landschaft hereinbricht und die „natürliche Ordnung“ kurzzeitig aus den Angeln hebt – wie etwa der von James Carville und George Stephanopoulos gesteuerte, legendäre 1992er Wahlkampf für Bill Clinton. Denn tatsächlich haben die Demokraten bereits vor Obama das „Hardball-Game“ wiederentdeckt. Die eng aufeinander folgenden Demütigungen bei den Wahlen von 2000, 2002 und 2004 haben zu einem massiven Umdenken bei den Demokraten geführt. Unterstützt von Nancy Pelosi entwickelte sich eine aggressive new breed demokratischer Wahlkämpfer, die vor den republikanischen Kampagnen Karl Rove’scher Prägung nicht mehr ängstlich zurückwich, sondern massiv in die Offensive ging.

In diesem Sinne lässt sich die Obama-Kampagne heute als direkte Fortsetzung des 2006er Kongress-Wahlkampfs lesen, in dem die Demokraten eine lange nicht gesehene Härte und Effizienz an den Tag legten und den Republikanern eine demütigende Niederlage beibrachten. Die Verlierer schoben dieses »Massaker« auf die Unbeliebtheit des damaligen Präsidenten ― und unterschätzten damit bis heute die neue Professionalität ihrer bislang nur müde belächelten Gegner. Die grimmige Entschlossenheit, mit der Obamas Bodenpersonal die personell und finanziell unterlegenen McCain-Truppen selbst in vermeintlich sicheren »roten Staaten« vor sich hergetrieben hat, erinnert stark an 2006.

Angeführt wurde jener Kongress-Wahlkampf von Rahm Emanuel, einem engen Vertrauten Obamas, der ebenfalls aus Illinois stammt und heute als ernstzunehmender Kandidat für den Posten als Obamas Stabschefs gilt. (Emanuel steht übrigens den Clintons ebenfalls nahe, er war Nachfolger von George Stephanopoulos als Bill Clintons Sonderberater im Weißen Haus.) Auch andere wichtige Protagonisten des 2006er Wahlkampfs wie etwa der Pressesprecher Bill Burton spielen heute eine zentrale Rolle in Obamas Team und werden nun mit ihm ins Weiße Haus einziehen. Obama wiederum unterstützte Emanuels Kongress-Wahlkampf nach Kräften. Wenn es beispielsweise galt, hoffnungsvolle Aspiranten von einer Kandidatur zu überzeugen, schickte Emanuel einen Käsekuchen ― und einen persönlichen Anruf von Obama gleich hinterher.

Obama wurde schon während der Primaries als wolkig-abgehobener, elitärer Schöngeist dargestellt, der gut daherreden könne, dem aber die notwendige Härte fehle, um sich der Attacken der Republikaner erwehren zu können. Diese Charakterisierung war durchaus effizient, wie der bis zuletzt offene, verbissen geführte Vorwahlkampf belegt. Sie muss deshalb aber noch lange nicht stimmen. Das Problem der Obama-Gegner war und ist, dass sie an diese Charakterisierung wohl selbst am meisten geglaubt haben. In Wirklichkeit kämpft McCain jedoch – wie zuvor schon Clinton – gegen einen Mann, den es gar nicht gibt.

Barack Obama hat das politische Geschäft in der harten Schule der Demokratischen Partei von Chicago gelernt ― und das mitnichten nur als Sozialarbeiter, als Community Organizer. Er ist in einer rauen Organisation groß geworden, in der man zum Boxen nicht erst Handschuhe anzieht und in der ein Tritt in den Unterleib bereits als visionär gilt. Dieses Kapitel seines Lebens, das Ryan Lizza kürzlich ausführlich im New Yorker nachgezeichnet hat, wird in Obamas Autobiographie »Dreams of my Father« allenfalls gestreift. Es wird auch von den Medien – und erst recht von Obamas Anhängern – gerne übersehen. Es passt nicht zum Image eines Mannes, der das politische Establishment zum Edleren wandeln will. Es zeigt vielmehr, dass man Obamas Entschlossenheit und Härte nicht unterschätzen sollte. Und diese Entschlossenheit und Härte paart sich mit der unbarmherzigen Effizienz einer bereits vor zwei Jahren wiederbelebten Wahlkampf-Organisation der Demokraten.

Die Republikaner haben aus ihrem 2006er Kongress-Debakel ebenso wenig gelernt wie aus dem beispiellosen Untergang Hillary Clintons, für den sie allenfalls Häme übrig hatten. Tatsächlich erinnert der heutige Wahlkämpfer McCain mit seinen oft kopflos erscheinenden Änderungen des politischen Kurses und des persönlichen politischen Stils an die zunehmend verzweifelte Hillary Clinton im demokratischen Vorwahlkampf.

Beide Kampagnen sind im Angesicht der Obama-Maschinerie, die seit Anfang des Jahres den Rhythmus der politischen Debatte vorgibt, ähnlich widersprüchlich, profillos und defensiv geblieben. Beide Kampagnen waren von Anfang an getriebene. Beide Kampagnen waren zugleich beseelt vom Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit. Sowohl Clinton als auch McCain waren nicht vorbereitet auf das, was sie erwartete. Und das ist mehr als erstaunlich bei zwei Kandidaten, die beide eine selbst für amerikanische Verhältnisse außergewöhnliche politische Erfahrung und Kampferprobtheit mitbringen.

Mit Barack Obama steht heute ein Mann kurz vor dem Einzug ins Weiße Haus, der zu Beginn des Jahres in den demokratischen Primaries noch als Nummer 3 gehandelt wurde. Dem nachgesagt wurde, er wolle sich nur auf der nationalen Bühne präsentieren, damit sich die Wähler an ihn und seinen seltsamen Namen gewöhnen, als Vorbereitung für die Wahlen in 2012 oder gar 2016. Wer auch immer heute glaubt, er habe eine ungefähre Vorstellung davon, wie eine Obama-Präsidentschaft aussehen könnte, sollte sich auf weitere Überraschungen gefasst machen.

Jan Noeventhien rechnet für die heutige Wahlnacht mit einem Erdrutschsieg Barack Obamas. Er prognostiziert mindestens 338 Wahlmänner-Stimmen für den demokratischen Senator – und höchstens 200 Mandate für John McCain.
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