Mit guten Geschichten ist es wie mit den Menschen: Sie werden besser, wenn sie Berlin hinter sich lassen. Das gilt auch für die Geschichte, die Olga Grjasnowa in ihrem zweiten Roman „Die juristische Unschärfe einer Ehe“ erzählt.
In Berlin leben, wie nahezu alle Menschen, von denen heutzutage Literatur handelt, Leyla und Altay. Die beiden sind verheiratet, und zwar miteinander, und das ist durchaus erwähnenswert, denn Leyla ist lesbisch und Altay ist schwul. Die Ehe hat ihnen einige Probleme vom Hals gehalten, die man als homosexueller Mensch leicht bekommen kann, wenn man wie Leyla und Altay in Baku aufwächst und später in Moskau lebt, wo Leyla am Bolschoi-Theater tanzt, während Altay seine erste Assistenzarztstelle antritt und auf dem Weg zur Arbeit darauf achtet, keinen homophoben Schlägerbanden in die Arme zu laufen.
Erst in Berlin erleben sie zum ersten Mal einen „Zusammenhang zwischen Glück und Homosexualität. Beide waren mit dem Horrorszenario eines homosexuellen Lebens aufgewachsen – Coming-out, Diskriminierung, Krankheit, Tod. In Berlin kamen Liebe, Partnerschaft und Begehren dazu.“ In Berlin sind Leyla und Altay so frei, dass sie nun sogar mit der Heterosexualität experimentieren und miteinander schlafen, und das läuft gar nicht schlecht. Was vielleicht einmal als Scheinehe angefangen haben mag, erweist sich als ein durchaus enger Bund.
Das wiederum ist ein Problem für Jonoun, die sich in einer Berliner Kneipe in Leyla verliebt hat und sich plötzlich in einer Dreierbeziehung wiederfindet, in der am Ende keine und keiner das Glück findet. Jonoun kommt an Altay nicht vorbei, Altay ist eifersüchtig und wird immer besitzergreifender gegenüber Leyla, er redet plötzlich von Kindern. Leyla, die Ballerina, unterwirft ihren Körper einem unnachgiebigen autoritären Regime, erträgt aber Altays zunehmendes Besitzstreben nicht und macht sich schließlich aus dem Staub nach Baku, die Stadt ihrer Kindheit. Hier müssen Altay und Jonoun sie einige Wochen später aus dem Gefängnis holen, weil Leyla bei einem illegalen Autorennen verhaftet wurde. Hier beginnt die Geschichte, und hier nimmt sie zugleich auch ihre entscheidende Wendung.
Die Ehe, die Leyla und Altay leben und deren nicht nur juristische Unschärfe hier verhandelt wird, ist offen und voller Freiheiten nach allen Seiten. Allzu starre Identitäten hat keiner der Protagonisten, die sexuellen Interessen und Präferenzen sind flatterhaft, die ethnischen Hintergründe vielfältig, und das macht die Protagonisten und ihre Motive auch für den Leser nicht immer leicht zu fassen. Unschärfe kennzeichnet die ganze Geschichte, die Grjasnowa hier erzählt, und man kann die leichte Schwammigkeit der Charakterzeichnung durchaus beklagen – zumal die Vorgeschichten der Charaktere in Rückblenden recht präzise ausfabuliert werden. Aber gerade dieses Ungefähre entwickelt sich immer mehr zu einer tonangebenden Stärke des Romans.
Das gilt noch nicht unbedingt für dessen erste Hälfte, die in Deutschland spielt und erzählt, wie Jonoun in Leylas und Altays Leben tritt. Aber als Leyla zu Beginn des zweiten Teils (nicht ohne symbolischen Hintersinn) aus dem Gefängnis entlassen wird, kommt die Geschichte in Fahrt. Grjasnowa, die selbst aus Baku stammt, zeigt die allgegenwärtige Korruption und Willkür in der autoritären postsowjetischen Rohstoff-Diktatur Aserbaidschans in vielen schillernden Details. Sie erzählt von einer Gesellschaft, deren Frauen Leyla wie „eine ganze Armee unglücklicher Madame Bovarys“ erscheinen und zeichnet starke Porträts von den Menschen in Leylas Familie (wie überhaupt die Nebenfiguren meist einen viel stärkeren, klareren Eindruck hinterlassen). Als Leyla und Jonoun sich auf den Weg machen, um mit dem alten Porsche von Leylas Vater durch das Land und schließlich durch Georgien und Armenien bis nahe an die iranische Grenze fahren, kann man in jeder Szene spüren, wie die beiden Frauen, je weiter sie reisen, sich dabei auf engstem Raum auch immer weiter voneinander entfernen. Hier findet das Buch, das auf den ersten Seiten hier und da noch mit einigen Sätzen versucht, einen schnodderigen, beiläufigen Pop-Roman-Ton anzuschlagen, nun endgültig zu sich, und auch der naheliegenden Gefahr, in ausgefahrene Roadmovie-Klischees zu kippen, kann Grjasnowa widerstehen.
Wie frei waren sie wirklich in Berlin, das ist die Frage, die sich währenddessen Altay stellt, als er sich in Baku in Farid verliebt. In Aserbaidschan kannst du alles sein, sogar schwul, du musst nur Macht und Geld haben. Unterdrückt wird in erster Linie nicht, wer anders, sondern wer schwächer ist. In Berlin, ohne Macht und mit dem Gehalt eines Assistenzarztes in der Krankhauspsychiatrie, war Altay zwar nicht unterdrückt, aber nur solange er sich in die gesellschaftliche Rolle fügte, die ihm in dieser Stadt, in der die Libertinage eher Fetisch als Freiheit ist, zugedacht war, ließ man ihn mitspielen.
Und was ist diese scheinbare Libertinage, etwa ein durchtanztes Wochenende im Berghain mit eingeschobenem Gelegenheitssex, schon gegen die irre Dekadenz der neureichen Bonzen des aserbaidschanischen Geldadels und ihrer Kinder? „Der Westen hatte sie enttäuscht. Er war ihrer Kaufkraft nicht gewachsen, und die Demokratie galt nicht für die Inhaber ausländischer Pässe – vor allem nicht für solche aus bösen Ländern.“ Am gegenüberliegenden Ufer des Kaspischen Meeres hingegen liegen Russland, Turkmenistan und der Iran – „alle voller Verbrechen und Verheißungen.“
Als Leyla klar wird, dass Jonoun nicht ihre Zukunft ist, kehrt sie um. Kehrt sie auch zurück zu Altay? Werden sie ein Kind bekommen? „Die wichtigste Aufgabe eines jeden Menschen besteht darin, die Ehe zu verkraften“, hatte Leylas Mutter ihr schon vor Beginn der Reise auf den Weg gegeben. In der Ehe werde jeder irgendwann besitzergreifend. Ihr Rat: „Weitermachen wie bisher.“
Ob Leyla und Altay weitermachen wie bisher, diese Frage ist in einem Buch, das mit der Unschärfe seiner Geschichten und Figuren spielt, aber auch nicht die entscheidende. Schon in Berlin hatte Leyla erkannt: „Der freie Wille ist eine schwierige Sache.“ Dort vielleicht noch mehr als anderswo.
JAN NOEVENTHIEN (veröffentlicht am 1.3.2016)
Olga Grjasnowa: Die juristische Unschärfe einer Ehe. Carl Hanser Verlag, 264 Seiten, 19,90 Euro