Ihre Freunde heißen Jonas, Karl und Leonie, und damit weiß man schon das meiste, was man über sie wissen muss. Gemeinsam mit der Ich-Erzählerin Nora leben sie in einer funktionierenden Viererbeziehung, wobei „funktionierend“ hier vor allem heißt: Die polyamouröse Konstellation erlaubt es allen Beteiligten, nicht oder zumindest möglichst wenig allein zu sein. Dass man sich in so einer Konstellation allerdings nicht ewig vor sich selbst und seiner Vergangenheit verstecken kann, davon erzählt Ronja von Rönnes höchst gegenwärtiger Debütroman „Wir kommen“.
Nora hat neuerdings Panikattacken, Leonie Essstörungen, und Jonas und Karl schreiben gerade an irgendwelchen Sachen, irgendetwas zu postulieren gibt es für Männer schließlich immer. Das Miteinander der Viererclique ist eher ein intensives, enges Nebeneinander, knisternde Erotik, wie man das wohl in Fachkreisen nennt, sucht man allerdings vergebens, und allein schon dafür ist der Autorin unbedingt zu danken. Das Quartett mit dem komplizierten Beziehungsstatus lebt, das sollte mittlerweile klar geworden sein, in Berlin, der Welthauptstadt der Neuen Uneigentlichkeit, in der selbst Gruppensex, den wir hier draußen in den Wäldern immer noch verdammt ernst nehmen, nur ironisch laufen kann.
In normalen Paarbeziehungen, das wissen wir alle, muss, wenn die Probleme beginnen, schnell ein Kind gemacht werden, mit einem Kind wird alles besser, aber hier gibt es schon ein Kind, die vier haben ja überhaupt schon alles, darunter eben auch ein Kind, das niemals spricht, und sogar eine Schildkröte (die ebenfalls nicht spricht, aber das tut an dieser Stelle nichts zur Sache). Also behilft man sich mit einer Flucht aus Berlin ans Meer, in ein Ferienhaus an der Ostsee. Der Wind braust um die vier herum, Wellen schlagen an den Strand, und als auch das nicht mehr hilft, ergreift man eben die Flucht vor der Flucht und lädt alle Berliner Freunde zur großen Party ein. Dass Die Große Party am Ende aber auch nichts mehr retten wird, man ahnt es bereits, das ist nun mal der traurige Lauf der Dinge, darin unterscheiden sich Berlin und der Rest der Welt nur unwesentlich.
Man könnte Ronja von Rönnes Roman leichthin abtun als eine weitere dieser vielen Twentysomethings-lost-in-Berlin-Geschichten voller lethargisch-verschlurft vor sich hinscheiternder Projektluschen und Medienkreaturen, als eine dieser Geschichten, die jetzt alle schreiben, die meinen, dass ein Roman unbedingt zu ihrem Lebensplan dazugehört. Zu diesem Eindruck verführt zuallererst schon der patentierte Tonfall, mit dem Rönne ihre Hauptfigur Nora, die beruflich wohl irgendwas im Fernsehen moderiert, demnächst aber irgendwas anderes im Fernsehen moderieren soll, erzählen lässt: schulterzuckend, selbstbezogen, routiniert lakonisch, hilflos abgeklärt, irgendwie ratlos und doch auch irgendwie smart-ass. Und so lässt sie die Sätze beiläufig mäandern, und dann wird noch ein Halbsatz angehängt, der mit „und“ beginnt und dem Satz noch einen neuen Dreh gibt. Oft gefolgt von einem sehr kurzem Satz.
Vielleicht neigt man auch deshalb dazu, das Buch allzu leicht zu nehmen, weil man das Gefühl hat, dass die Autorin ihre Figuren selbst nicht so richtig ernst nimmt. Die vier Protagonisten jedenfalls bekommt man nicht so recht zu fassen. Sie sind zu clever, um sich wirklich auf Dinge einzulassen, und gleichzeitig unablässig beschäftigt mit der Frage, wie etwas wirkt, wie etwas aussieht, ob etwas cool ist. Sie leben, als ob sie einen Instagram-Filter über ihr ganzes Leben gelegt haben, der zwar selbst die hässlichsten Ecken in ein angenehmes Licht taucht, aber eben auch dafür sorgt, dass am Ende alles gleich aussieht. Im Grunde könnte man „Wir kommen“ für das gleiche kritisieren, aber dafür müsste man Ronja von Rönnes Erzählperspektive mit der Weltsicht ihrer Protagonisten verwechseln. Einige Kritiker haben das durchaus getan, dabei aber übersehen, dass Rönne das uneigentliche Leben ihrer Protagonisten (von einem „Lebensgefühl“ mag man hier gar nicht sprechen, und auch dafür ist der Autorin unbedingt zu danken) lakonisch und präzise einfängt.
Ronja von Rönne, die als Autorin für das Feuilleton der „Welt“ schreibt und das lesenswerte Blog „Sudelheft“ betreibt, gelingt mit „Wir kommen“ der Kunstgriff, eine geschmeidige Ironie in den Bericht der Ich-Erzählerin zu legen, die der Ich-Erzählerin Nora selbst nicht bewusst ist. Denn schnell wird klar, dass Nora einiges zu verdrängen hat, und damit sind wir bei der zweiten, viel interessanteren Geschichte, die der Roman entfaltet: das obligatorische dunkle Geheimnis aus der Kindheit, das sich schleichend der Gegenwart bemächtigt. Dass hinter der gefilterten Instagram-Sprache noch etwas anderes lauert als das, was Nora sich und allen anderen weismachen will, das lässt Rönne gekonnt mitschwingen.
Verdrängung ist, was uns über Wasser hält, hat ein kluger Blogger mal geschrieben, aber Noras wiederkehrende Panikattacken sind ein deutliches Zeichen dafür, dass dieser Auftrieb-Mechanismus für sie nicht mehr funktioniert. Sie versucht zu verstehen, was los ist mit dieser knarzenden Viererbeziehung, mit ihrer alten Jugendfreundin Maja, mit deren Todesanzeige das Buch beginnt, mit dem Geheimnis aus der Vergangenheit. All das schreibt Nora auf, weil ihr Therapeut gerade im Urlaub ist, und Ronja von Rönne gelingt es, alledem schöne beiläufige Pointen abzugewinnen, obwohl kaum etwas Komisches geschieht und der Ich-Erzählerin schon lange nicht mehr zum Lachen zumute ist.
JAN NOEVENTHIEN (veröffentlicht am 1.9.2016)
Ronja von Rönne: Wir kommen. Aufbau, gebunden, 205 Seiten, 18,95 Euro