Archiv der Kategorie: Politik

In Joghurtgewittern — Gefechtserfahrungen im Golf

Mit dem Ende der Wehrpflicht ist seit heute auch der Zivildienst Geschichte. Was der Gesellschaft dadurch verloren geht, beleuchtet Jan Kutter.

Heute werden in Deutschland die letzten Zivildienstleistenden in die Freiheit entlassen. Millionen männlicher Mitmenschen haben seit 1961 während ihres Ersatzdienstes sogenannte »wertvolle Erfahrungen« gesammelt, die sie »auf gar keinen Fall missen« möchten. So lautet die offizielle Sprachregelung aller ehemaligen Zivildienstleistenden — zumindest hinterher. Seit Tagen nun sind die Feuilletons voll von Erinnerungen ehemals zivildienstleistender Redakteure, die gewiss nicht zum ersten Mal ihre »wertvollen Erfahrungen« teilen, und da möchte ich natürlich nicht zurückstehen.

Auf einmal ging alles sehr schnell. Der junge Kollege Bessmann hatte gerade den Wagen an der roten Ampel gestoppt, als sich plötzlich die Türen des vor uns stehenden Golfs öffneten. Zwei junge Männer sprangen heraus. Ich wusste, was passieren würde. »Los, Zentralverriegelung!«, rief ich. Hektisch griff ich nach hinten und kramte im Rückraum des Wagens. Die Männer standen bereits vor uns. Sie holten aus und warfen zwei Yoghurt-Packungen auf unsere Windschutzscheibe, die sogleich zerplatzten. »Die Arschlöcher!«, schimpfte Bessmann und schaltete die Scheibenwischer ein, deren Gummiwischblätter den Kleister nun kreuz und quer über die Scheibe schmierten. Als wir endlich wieder etwas erkennen konnten, waren die Angreifer längst wieder in ihren Wagen gesprungen und losgefahren. Die Ampel stand auf grün. Alle um uns herum fuhren los, bloß wir nicht. Ich hatte derweil gefunden, wonach ich gesucht hatte. »Hab’ einen«, rief ich, »Bessmann, gib Gas!«

Bessmann ließ die Reifen quietschen. Es ging rauf auf die Hochstraße, und jetzt zahlte sich endlich einmal aus, dass wir die Überland-Tour fuhren: Die Tour war unbeliebt, weil sie länger war als alle anderen, aber dafür hatten wir den Turbo-Diesel, den schnellsten Wagen im Fuhrpark. Bessmann holte mühelos auf, während ich das Beifahrerfenster herunterkurbelte. Nur einen Augenblick später zerbarst ein Schoko-Pudding von Puddis, einer Marke, die wir seltsamerweise immer in kyrilischer Beschriftung geliefert bekamen, oben links auf der Windschutzscheibe des gegnerischen Golfs. Ein zweiter klatschte auf die Essen auf Rädern-Werbetafel. »Ja, noch einen!«, rief Bessmann, dessen Laune sich augenblicklich gebessert hatte. »Nix, wir hauen ab«, beschied ich, zufrieden mein Werk im Rückspiegel betrachtend. Schließlich wurde ich gern als Stimme der Vernunft den eher unverlässigen Fahrern zugeteilt. Aufgrund meines gesetzten Alters und eines abgeschlossenen Universitätsstudiums galt ich als Respektsperson. Die Kollegen im gegnerischen Golf hatten genug.

Wegen eines angeblichen Nierenschadens, den das Kreiswehrersatzamt ohne mein aktives Zutun und zu meiner eigenen Überraschung feststellte, aber später — ebenso wie der Urologe aus dem Nachbarstädtchen — nicht mehr wiederfinden konnte, gelangte ich erst mit etlichen Jahren Verspätung als Zivildienstleistender zu Essen auf Rädern. Was ich nicht wusste: Diese ruhmreiche Einrichtung, die sich den konsequenten Vitaminentzug der greisen Bevölkerung mittels Lieferung erkalteter Fertigspeisen auf die Fahnen geschrieben hatte, ist die erste Anlaufstelle für die Autonarren (vulgo: die Bekloppten) unter den Kasernatsverweigerern.

Was die einschlägigen, gewissen Gewissensgründe betraf, die glaubhaft herangeführt werden mussten, um die Berechtigung für das Privileg eines extralangen Zwangsdienstes bescheinigt zu bekommen, bewiesen die Essenausfahrer jeden Tag aufs neue, dass sie keinerlei moralischen Probleme damit hätten, notfalls auch mit einem Panzer rücksichtslos über jedes Hindernis hinwegzuwalzen, sofern nur der Motor dabei kräftig röhrte. Eine These, die sich durch die eindrucksvolle innerbetriebliche Unfallstatistik jederzeit belegen ließ, von den Joghurt-Schlachten auf offener Straße ganz zu schweigen. Diese wurden meist mit der Konkurrenz vom kommerziellen Menü-Bringdienst ausgetragen, doch manchmal gerieten auch die eigenen Kollegen in »friendly fire«. Wir waren eine Gemeinschaft, die unter Zwang von einer undurchsichtigen Bürokratie zusammengeführt worden war. Wir waren nicht alle Freunde.

Vom Dienststellenleiter wurde ich nicht nur schnell als dufte Respektsperson, sondern auch als Intellektueller ausgemacht, was bedeutete, dass ich die festangestellten Kolleginnen im Büro unterstützen durfte. Dort beruhigte ich nicht nur alte Damen am Telefon, die sich Sorgen wegen der kyrillischen Beschriftungen auf dem Nachtisch machten (»Nein, Frau Wöhler, der Russe ist nicht da. Noch nicht!«), sondern nahm auch die regelmäßigen Beschwerden aufgebrachter Verkehrsteilnehmer entgegen und versprach, die gemeldeten Übeltäter (»Ich wiederhole noch einmal das Kennzeichen, das Sie mir genannt haben, damit wir auch ja den richtigen erwischen!«) einer gerechten und vor allem harten Strafe zuzuführen. Erst der fortgesetzte Verzicht hierauf freilich begründete meinen internen Status als Respektsperson — dies und die Tatsache, dass ich den Schlüssel für die Tiefkühlkammer verwaltete, in der verbotene Extraportionen für den Hunger zwischendurch lockten, die im Konvektomaten verzehrfertig gemacht werden konnten, sowie streng wissenschaftliche Panik-Experimente durchgeführt werden konnten. Dass so eine begehbare Kühlkammer keinen Notöffnungsmechanismus im Innern hatte, konnte doch eigentlich gar nicht zulässig sein — da konnte der ISO-zertifizierungsbegeisterte Geschäftsführer noch so viele Qualitätszirkel abhalten.

So war das im Zivildienst. Wenn alle Essens-Portionen ausgeliefert waren, teilte sich die Belegschaft der Dienststelle auf. Ein Teil unterstützte die Sozialen Mobilen Hilfsdienste bei der Seniorenbetreuung, ein anderer lieferte Getränkekisten für den Schwesterdienst Getränke auf Rädern aus. Natürlich sammelte man wertvolle Erfahrungen, tatsächlich möchte ich sie nicht missen — jetzt, wo alles lange vorbei ist. Aber während der Dienstzeit, die ja bei aller Einsicht in die Sinnhaftigkeit der sozialen Tätigkeiten immer auch eine Zwangsdienstzeit war, wurden die Tage gezählt, und zwar rückwärts. Zumindest darin unterschieden sich Zivildienst und Wehrdienst nicht nennenswert voneinander.

Meine VW-Golf-Kriegserlebnisse hatte ich beinahe vergessen, als ich vor einiger Zeit bei einem gesellschaftlichen Ereignis mittlerer Tragweite von einem Offizier der Reserve, der sich in Friedenszeiten als hochrangiges Mitglied der deutschen Rechtsprechung durchschlagen musste, gefragt wurde, ob ick denn wohl jedient hätte. »Selbstverständlich!«, antwortete ich schneidig, »bei Essen auf Rädern!« Der damalige OLG-Präsident machte auf dem Absatz kehrt und würdigte mich keines weiteren Blickes. Ich bezweifle allerdings, dass seine Gefechtserfahrung nennenswert an meine heranreicht.

JAN NOEVENTHIEN, Dezember 2011

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Das eigentliche Rätsel dieses Wahljahres

Die Republikaner haben aus ihrer Niederlage bei den Kongresswahlen 2006 nichts gelernt – und auch keine Lehren aus dem spektakulären Niedergang Hillary Clintons gezogen. Vor allem deshalb wird John McCain bei den heutigen Präsidentschaftswahlen gegen seinen Herausforderer Barack Obama verlieren.

Die US-Demokraten gelten als ängstlich-verzagte, notorisch undisziplinierte und chronisch unterfinanzierte Wahlkämpfer. Umso überraschender ist es, wie deutlich Barack Obamas Kampagne den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf dominiert hat. Die Demokraten deklassierten ihre republikanischen Gegenspieler auf allen Feldern, auf denen die GOP über viele Jahren haushoch überlegen war: Fundraising, Microtargeting, Organisation und das so genannte GOTV, die Wählermobilisierung.

Selbst als der Wahlkampf schmutzig wurde, reagierte das Obama-Team – anders als andere demokratische Präsidentschaftsanwärter zuvor – so souverän, diszipliniert und bretthart, dass die Attacken letztlich auf den Angreifer zurückfielen. Gleiches gilt für die unerwartet heftig hereingebrochene Wirtschaftskrise, in der ebenfalls sofort der richtige Ton gefunden wurde. Zugleich konnte vermieden werden, dass kleinere Schwächen (etwa die Haltung zum Iran, die Reaktion auf den Georgien-Konflikt sowie ein schwacher Bowling-Nachmittag) zu zentralen Themen wurden. Dieser Demokraten-Wahlkampf spielte deshalb in einer ganz anderen Liga als etwa die von der berüchtigten Berater-Legende Bob Shrum zusammengezimmerten Kampagnen für Al Gore und John Kerry ― von Michael Dukakis’ gescheitertem Anlauf ganz zu schweigen.

Barack Obama haben nicht nur seine Botschaft des Wandels, die Unbeliebtheit des amtierenden Präsidenten und die ökonomische Krise nach vorne geholfen. Er hat die gefürchtete republikanische Wahlkampfmaschine auch in ihrem ureigenen Spiel geschlagen. Dass man ― finanziert durch nie geahnte Fundraising-Rekorde ― John McCain selbst in Staaten wie North Dakota, Georgia oder Arizona in die Defensive und damit zum Splitten seiner Ressourcen zwingen konnte (McCain musste bereits Teile seiner Wahlkampf-Infrastruktur vorzeitig abwickeln, um mehr Geld für Fernseh-Werbespots zu erlösen), ist nicht allein durch rhetorische Kraft oder eine wolkige Vision zu erklären. Obamas Leute haben die Republikaner organisatorisch, finanziell und strategisch überrollt.

Dass die Republikaner sich haben derart überrollen lassen, verwundert umso mehr, als alle Qualitäten der Obama-Kampagne bereits in den demokratischen Primaries zu bestaunen waren. Tatsächlich war die von Spenden und Kontakten getriebene Politik-Maschine von Hillary Clinton deutlich schwerer zu schlagen als nun die McCain-Kampagne, doch gelang dies letztlich mit den gleichen Mitteln, an denen sich die McCain-Manager Steve Schmidt und Rick Davis bis heute die Zähne ausgebissen haben.

Clinton wurde von der Wucht der Obama-Welle überrascht und war gehandicapt durch ihre eigene Organisation, die aufgrund interner Streitigkeiten und einer ebenso widersprüchlichen wie fehlerhaften Wahlstrategie nie zur vollen Schlagkraft gelangte. Dass ihr Wahlkampf-Chef Mark Penn nicht einmal die Regeln der Delegiertenverteilung der demokratischen Partei verstanden hatte, darf inzwischen als gesichert gelten. Warum allerdings auch die Republikaner trotz aller Vorwarnungen bis zuletzt keine schlagende Antwort auf die Obama-Kampagne gefunden haben, ist das eigentliche Rätsel dieses Wahljahres.

Gefeiert für den Obama-Wahlkampf werden vor allem David Axelrod als Medienstratege und David Plouffe als Wahlkampfmanager, dem zuzuschreiben ist, dass eine rasant wachsende Organisation mit einer in der Demokratischen Partei nie dagewesenen Disziplin und Präzision agiert. Hinzu kommt Steve Hildebrandt, der mit einer milimetergenau ausgetüftelten Vorwahlstrategie die Grundlage dafür geschaffen hat, die scheinbar unschlagbare Hillary Clinton aus dem Rennen zu kegeln. Und nicht zu vergessen ein Fundraising-Team, dass die amerikanische Wahlkampffinanzierung von Grund auf umgekrempelt hat.

Man sollte sich jedoch davor hüten, die Obama-Kampagne nun als einen Solitär abzutun, eine Naturgewalt, wie sie hin und wieder mal über die politische Landschaft hereinbricht und die „natürliche Ordnung“ kurzzeitig aus den Angeln hebt – wie etwa der von James Carville und George Stephanopoulos gesteuerte, legendäre 1992er Wahlkampf für Bill Clinton. Denn tatsächlich haben die Demokraten bereits vor Obama das „Hardball-Game“ wiederentdeckt. Die eng aufeinander folgenden Demütigungen bei den Wahlen von 2000, 2002 und 2004 haben zu einem massiven Umdenken bei den Demokraten geführt. Unterstützt von Nancy Pelosi entwickelte sich eine aggressive new breed demokratischer Wahlkämpfer, die vor den republikanischen Kampagnen Karl Rove’scher Prägung nicht mehr ängstlich zurückwich, sondern massiv in die Offensive ging.

In diesem Sinne lässt sich die Obama-Kampagne heute als direkte Fortsetzung des 2006er Kongress-Wahlkampfs lesen, in dem die Demokraten eine lange nicht gesehene Härte und Effizienz an den Tag legten und den Republikanern eine demütigende Niederlage beibrachten. Die Verlierer schoben dieses »Massaker« auf die Unbeliebtheit des damaligen Präsidenten ― und unterschätzten damit bis heute die neue Professionalität ihrer bislang nur müde belächelten Gegner. Die grimmige Entschlossenheit, mit der Obamas Bodenpersonal die personell und finanziell unterlegenen McCain-Truppen selbst in vermeintlich sicheren »roten Staaten« vor sich hergetrieben hat, erinnert stark an 2006.

Angeführt wurde jener Kongress-Wahlkampf von Rahm Emanuel, einem engen Vertrauten Obamas, der ebenfalls aus Illinois stammt und heute als ernstzunehmender Kandidat für den Posten als Obamas Stabschefs gilt. (Emanuel steht übrigens den Clintons ebenfalls nahe, er war Nachfolger von George Stephanopoulos als Bill Clintons Sonderberater im Weißen Haus.) Auch andere wichtige Protagonisten des 2006er Wahlkampfs wie etwa der Pressesprecher Bill Burton spielen heute eine zentrale Rolle in Obamas Team und werden nun mit ihm ins Weiße Haus einziehen. Obama wiederum unterstützte Emanuels Kongress-Wahlkampf nach Kräften. Wenn es beispielsweise galt, hoffnungsvolle Aspiranten von einer Kandidatur zu überzeugen, schickte Emanuel einen Käsekuchen ― und einen persönlichen Anruf von Obama gleich hinterher.

Obama wurde schon während der Primaries als wolkig-abgehobener, elitärer Schöngeist dargestellt, der gut daherreden könne, dem aber die notwendige Härte fehle, um sich der Attacken der Republikaner erwehren zu können. Diese Charakterisierung war durchaus effizient, wie der bis zuletzt offene, verbissen geführte Vorwahlkampf belegt. Sie muss deshalb aber noch lange nicht stimmen. Das Problem der Obama-Gegner war und ist, dass sie an diese Charakterisierung wohl selbst am meisten geglaubt haben. In Wirklichkeit kämpft McCain jedoch – wie zuvor schon Clinton – gegen einen Mann, den es gar nicht gibt.

Barack Obama hat das politische Geschäft in der harten Schule der Demokratischen Partei von Chicago gelernt ― und das mitnichten nur als Sozialarbeiter, als Community Organizer. Er ist in einer rauen Organisation groß geworden, in der man zum Boxen nicht erst Handschuhe anzieht und in der ein Tritt in den Unterleib bereits als visionär gilt. Dieses Kapitel seines Lebens, das Ryan Lizza kürzlich ausführlich im New Yorker nachgezeichnet hat, wird in Obamas Autobiographie »Dreams of my Father« allenfalls gestreift. Es wird auch von den Medien – und erst recht von Obamas Anhängern – gerne übersehen. Es passt nicht zum Image eines Mannes, der das politische Establishment zum Edleren wandeln will. Es zeigt vielmehr, dass man Obamas Entschlossenheit und Härte nicht unterschätzen sollte. Und diese Entschlossenheit und Härte paart sich mit der unbarmherzigen Effizienz einer bereits vor zwei Jahren wiederbelebten Wahlkampf-Organisation der Demokraten.

Die Republikaner haben aus ihrem 2006er Kongress-Debakel ebenso wenig gelernt wie aus dem beispiellosen Untergang Hillary Clintons, für den sie allenfalls Häme übrig hatten. Tatsächlich erinnert der heutige Wahlkämpfer McCain mit seinen oft kopflos erscheinenden Änderungen des politischen Kurses und des persönlichen politischen Stils an die zunehmend verzweifelte Hillary Clinton im demokratischen Vorwahlkampf.

Beide Kampagnen sind im Angesicht der Obama-Maschinerie, die seit Anfang des Jahres den Rhythmus der politischen Debatte vorgibt, ähnlich widersprüchlich, profillos und defensiv geblieben. Beide Kampagnen waren von Anfang an getriebene. Beide Kampagnen waren zugleich beseelt vom Glauben an die eigene Unbesiegbarkeit. Sowohl Clinton als auch McCain waren nicht vorbereitet auf das, was sie erwartete. Und das ist mehr als erstaunlich bei zwei Kandidaten, die beide eine selbst für amerikanische Verhältnisse außergewöhnliche politische Erfahrung und Kampferprobtheit mitbringen.

Mit Barack Obama steht heute ein Mann kurz vor dem Einzug ins Weiße Haus, der zu Beginn des Jahres in den demokratischen Primaries noch als Nummer 3 gehandelt wurde. Dem nachgesagt wurde, er wolle sich nur auf der nationalen Bühne präsentieren, damit sich die Wähler an ihn und seinen seltsamen Namen gewöhnen, als Vorbereitung für die Wahlen in 2012 oder gar 2016. Wer auch immer heute glaubt, er habe eine ungefähre Vorstellung davon, wie eine Obama-Präsidentschaft aussehen könnte, sollte sich auf weitere Überraschungen gefasst machen.

Jan Noeventhien rechnet für die heutige Wahlnacht mit einem Erdrutschsieg Barack Obamas. Er prognostiziert mindestens 338 Wahlmänner-Stimmen für den demokratischen Senator – und höchstens 200 Mandate für John McCain.

Von Hühnern und Guppys

Was Schröder und Stoiber aus den  amerikanischen Fernsehduellen lernen können.

Dass er die Sozialversichung erfunden habe, das sollte Gerhard Schröder besser nicht behaupten, wenn er am 25. August im ersten Fernsehduell auf seinen Herausforderer Edmund Stoiber trifft. Mit ähnlichen Selbstbeweihräucherungen hatte sich vor zwei Jahren Al Gore um die US-Präsidentschaft geredet: das Internet gehe auf seine Kappe, verkündete er mit ernstem Gesicht. Doch zu viel Eigenlob schätzt der Wähler nicht, jedenfalls nicht an Politikern, und schon gar nicht in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Dass sich demonstrative Bescheidenheit im Wahlkampf allerdings ebenso wenig auszahlt, gehört zu den Widersprüchen, die Schröder und Stoiber bald auch im direkten Vergleich aufzulösen haben. Wem dies am besten gelingt, der hat auch gute Chancen, nach dem 22. Oktober die Regierung zu stellen.

Das direkte Duell ist ein neues Instrument im Werkzeugkoffer der deutschen Wahlkämpfer, die ihre Gegner oft nicht beim Namen nennen, sondern lieber von „den Anderen“ reden. Richtig ausprobieren konnte es noch keiner, entsprechend hoch ist die Gefahr für Kandidaten und Berater, irgendwo eine falsche Schraube anzuziehen und bleibenden Schaden im Kampagnen-Getriebe anzurichten.

Bislang galt das ungeschriebene Gesetz, dass Fernsehdebatten für den Amtsinhaber mehr Risiken und weniger Chancen bedeuten als für den Gegenkandidaten. Gerhard Schröder ist der erste Kanzler, der die Herausforderung zum Duell dennoch angenommen hat. Seine Virtuosität vor laufenden Kameras ist für die SPD-Strategen die „Silberkugel“ in der Auseinandersetzung mit Stoiber und scheint ihnen die damit verbundenen Risiken offenbar wert. Allerdings wurde auch Al Gore ein großer Erfahrungsvorsprung auf der nationalen Medienbühne attestiert – genutzt hat er ihm am Ende nicht.

Beim Fußball entscheiden oft individuelle Fehler über den Ausgang eines Spiels, bei Fernsehduellen ist es nicht anders. „Kandidaten verlieren Debatten, sie gewinnen nur selten“, sagt Ron Faucheux, Chefredakteur des US-amerikanischen Wahlkampf-Fachblatts Campaigns & Elections. Dass 1960 dem haushohen Favoriten Nixon im Duell gegen seinen jugendlichen Herausforderer Kennedy die Felle auf einem Strom von Schweiß davongeschwommen waren, ist Legende. Heute haben die Kandidaten in den USA ihre eigenen Kosmetiker und Modeberater, selbst die Krawatte wird passend zur Botschaft gewählt. Die Debatten werden im eigenen Lager minutiös geprobt, und vor dem Showdown hakeln die Medienstrategen der Kombattanten über Bühnenbild, Beleuchtung und Kameraeinstellungen. Alle Risikofaktoren sollen ausgeschaltet werden, doch eine Unwägbarkeit wird immer bleiben: der Kandidat.

Bei den Fernsehdebatten des Präsidentschaftswahlkampfs 2000 wartete ganz Ame­rika auf einen verhehrenden Lapsus George W. Bushs. Statt dessen verlor Al Gore das Duell wegen seiner offenkundigen Streberattitüde. Vernehmliches Seufzen bei den Aussagen seines Kontrahenten und schließlich sogar Verbesserungen bei dessen Aussprache waren den Amerikanern zuviel. Bushs Vater wiederum machte acht Jahre zuvor gegen Bill Clinton keine gute Figur, als er während dessen Statements demonstrativ auf die Uhr sah. Gore wie Vater Bush versuchten letztlich erfolglos, aus bekannten Schwächen ihrer Konkurrenten – mangelnde Erfahrung, Langatmigkeit – politisches Kapital zu schlagen.

Die Arroganz des Amtsinhabers, die zeigen soll, dass der Herausforderer nicht in der gleichen Liga spielt, ist also wenig hilfreich, und Gerhard Schröder, der sein ungebremstes Selbstbewusstsein wie kaum ein zweiter selbst in kleinsten Gesten und Pointen ausspielen kann, ist gut beraten, sein Ego an der kurzen Leine spazieren zu führen.

Doch auch Edmund Stoiber kann von Al Gores Scheitern lernen. Mit langen Zahlenkolonnen wird er zwar den Eindruck erzielen können, er habe seine Hausaufgaben gemacht. Um zum Klassensprecher gewählt zu werden, wird das allein nicht reichen. Zugleich kann er aber einen Vorteil nutzen, der auch Gores Herausforderer George W. Bush half: Weil die Erwartungen an den Texaner zuvor so gering waren, fiel es ihm leicht, sie zu übertreffen. Wer weiß, wozu Stoibers haspeliger Auftritt bei Sabine Christiansen noch einmal gut gewesen sein könnte.

Eine neue Studie der Universität Maryland und des Pew Charitable Trusts bestätigt dies. 92 beziehungsweise 85 Prozent der amerikansichen Wähler halten demnach Kompetenz und Positionierung in Sachfragen für die entscheidenden Faktoren für den Ausgang einer Fernsehdebatte. Nur 16 Prozent goutieren einen aggressiven Umgang mit dem Gegenüber. 70 Prozent halten Ruhe und Selbstbeherrschung für wichtig, deutlich weniger Gewicht haben die rhetorischen Fähigkeiten (58 Prozent) und die äußere Erscheinung der Kandidaten (26 Prozent).

Diese Selbsteinschätzung des amerikanischen Wählers dürfte wohl ein wenig idealisiert sein. Al Gores Kompetenz und Erfahrung wurden nie in Frage gestellt, aber sein allzu ausführlich zur Schau gestelltes Fachwissen hat ihm am Ende eher geschadet. Die kniffelige Frage lautet also: Wie vermittelt man den besten Eindruck von Sachkompetenz in kurzen Statements, ohne den Wähler zu langweilen oder ihm vor den Kopf zu stoßen? Und wie hält man seinen Gegner in der Defensive, ohne diesen allzu grob anzugehen?

Bill Clintons legendärer Wahlkampfberater James Carville empfiehlt seinen Kunden einen rhetorischen Dreisprung: „Answer – Attack – Explain“. Nichts sei verhehrender als der Eindruck, sich um die Antwort auf eine Frage zu drücken. Die Antwort müsse aber kurz sein, eine lange analytische Herleitung bleibe ohnehin nicht in Erinnerung. Danach solle man zum Angriff blasen, und erst wenn einem dann immer noch nicht das Wort abgeschnitten wurde, könne man noch etwas Sachkompetenz demonstrieren.

Für Faucheaux ist vorausschauendes Denken das Kriterium, das Gewinner von Verlierern unterscheidet: „Sag etwas, antizipiere den Gegenschlag deines Rivalen und plane deine Antwort darauf.“ Eine nicht gekonterte Attacke wirkt meist schwerer als ein eingefahrener Pluspunkt. Hilfreich sei auch ein starker Start: „Die Kandidaten sollten mit ihren ersten Worten die zentrale Frage des Wahlkampfes und ihre Gegensätze klar umreissen.“ Nachdem sie so den Boden für ihre großen thematischen Botschaften bereitet haben, sollten sie im Verlauf der Debatte immer wieder auf diese zurückkommen. „Hammering a message home“, nennt man das in Amerika.

Niemand weiß, wie die beiden Schröder-Stoiber-Duelle ausgehen werden und ob sie die politische Kultur in Deutschland eher voranbringen oder zurückwerfen werden. In den USA halten mittlerweile rund 20 Prozent der Wähler Fernsehdebatten für die beste Informationsquelle über die politischen Vorstellungen der Kandidaten, ergab die Studie der Universität Maryland. Nur Fernsehnachrichten und Zeitungsartikel stehen mit je 24 Prozent besser da. Werbespots, die im Gegensatz zu Fernsehdebatten den größten Teil der millionenschweren Wahlkampfetats ausmachen, schneiden mit drei Prozent hingegen deutlich schlechter ab.

Dass man in Deutschland künftig wieder auf Duelle dieser Art verzichten kann, ist unwahrscheinlich. Einmal eingeführt, entfalten die Debatten ihre eigene Dynamik. Ein Kandidat, der den direkten Vergleich scheut, muss sich den Vorwurf der Schwäche gefallen lassen. Mehr als die Hälfte der befragten Amerikaner gab an, es könne sich nachteilig auf ihre Wahlentscheidung auswirken, wenn ein Kandidat das Duell verweigere. Als der alte Bush zögerte, die Klingen mit seinem Herausforderer Clinton zu kreuzen, enterten  Clinton-Anhänger in Geflügel-Kostümen die Veranstaltungen der Republikaner und verspotteten den Präsidenten als „Chicken George“, als feiges Huhn. Der konterte erst mit müden Witzen über Guppys – und stimmte dann den Debatten zu.

JAN NOEVENTHIEN, August 2002

Der Kandidat, dieses wandelnde Krisengebiet

Sittenbild politischer Manöver: Ein anonymer Schreiber enthüllt „Mit aller Macht“ das Umfeld des amerikanischen Präsidenten

Wem schon immer übel wurde, wenn er Politiker Kinder herzen sah, befindet sich in guter Gesellschaft: Auch Henry Burton, der Ich-Erzähler des Politromans „Mit aller Macht“, muß sich übergeben, bevor er seinen Job hinschmeißt: Wahlkampfstratege eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten.

Die Geschichte beginnt ganz unverfänglich: Jack Stanton, ein ehrgeiziger, doch vorerst reichlich unbekannter Südstaaten-Gouverneur, will Präsident der Vereinigten Staaten werden. Mit allem ausgestattet, was für eine politische Karriere notwendig ist: Charisma, Intelligenz und bewegender Rhetorik, kann er eigentlich nur über seine Triebhaftigkeit stolpern, denn seine sexuellen Vorlieben liegen genau wie sein kulinarischer Geschmack eher im Fast-Food-Bereich, und bei beidem hält er sich nicht zurück.

Sehr bald verstrickt sich der Kandidat in eine fast schon tragikomische Serie von Pannen und Skandalen. Daß es ihm dennoch gelingt, diese Katastrophenkampagne politisch zu überleben, verdankt er professionellen Helfern, „hired guns“ wie Henry Burton, die Hinternisse aus dem Weg räumen und die Krisen meistern.

Es ist die Geschichte von Bill Clinton, die hier erzählt wird. Ein anonymer Autor hat aus Clintons 1992er Kampagne einen Schlüsselroman gemacht und damit in Amerika einen beispiellosen Skandal ausgelöst. Denn „Mit aller Macht“ hält sich dicht an der Wirklichkeit und ist gespickt mit einer solchen Fülle von Insiderwissen, daß die Suche nach dem Verräter in den eigenen Reihen zur Hauptbeschäftigung in Washington avancierte. Journalisten verfolgten den Anonymus durchs Internet, und Literaturwissenschaftler versuchten, ihm mit computergestützten Stilanalysen, mit denen man bislang eher unbekannten  Shakespeare-Texten nachspürte, auf die Schliche zu kommen.

Sehr viel einfacher als die Identität des Autors läßt sich die Romanhandlung entschlüsseln. Denn selten ist eine Wahlkampagne so aufmerksam verfolgt worden wie Clintons unaufhaltsames Zustolpern auf die Präsidentschaft. Hintergrundstrategen wie das Wahlkampf-Genie James Carville wurden selbst zu Medienstars und strahlten hell im Schatten ihres Kandidaten. Und so gibt es neben Stanton natürlich auch für Henry Burton, rechte und linke Hand des Kandidaten, eine Entsprechung im wirklichen Leben: den ehemaligen Sprecher und heutigen Berater Clintons im Weißen Haus, George Stephanopoulos. Der schwört heute Stein und Bein, mit „dem Buch“, wie es in Washington nur noch genannt wird, nichts zu tun haben.

„Mit aller Macht“ ist ein mit satten Farben gemaltes Sittenbild politischer Riten und Manöver in der Tradition von Robert Penn Warrens „All the King’s Men“, und mit Henry Burton verfügt der Anonymus über einen sensiblen und ironiebegabten Erzähler, der in feinen Charakterstudien ebenso wie in mitreissender Kraftprosa einen Strudel von Ereignissen beschreibt, dem sich der Leser kaum entziehen kann. Mit der ungeheuren Dynamik, die Wahlkampagnen bisweilen innewohnt, nimmt der unbekannte Autor es spielend auf.

Sex-Skandale und Talk Shows, Rededuelle und Vaterschaftstests, Fernsehspots und spontane Strategiekonferenzen bei „Dunkin‘ Donuts“ um die Ecke – am Ende erkennt Henry Burton, daß er im Dienste einer Sache, an die er geglaubt hat und wohl auch immer glauben wird, seine Unschuld verloren hat. Als sich die Frage stellt, ob er einen Parteifreund und Konkurrenten seines Arbeitgebers mit Dreck bewerfen oder warten soll, bis der politische Gegner das möglicherweise selbst erledigt, muß er eine moralische Entscheidung treffen in einer Umgebung, in der Moral hinter den letzten Umfragedaten zurückzustehen hat.

Es ist das alte Thema von Schuld und Sühne, das hier in schwüler Südstaatenluft neu verhandelt wird, doch eine Vielzahl funkelnder kleiner Beobachtungen erlaubt zugleich einen einzigartigen und authentischen Blick in das Innenleben jener wundersamen Welt der Berufspolitik. Ganz beiläufig berichtet Burton über so sonderbare Dinge wie die Kunst des Händedrucks, aerobisches Zuhören und die Eigenarten des „campaign sex“. Die Komik liegt hier im Detail, und das in einer Genauigkeit, die selbst die realen Hauptpersonen in tiefe Verwirrung darüber stürzte, wie präzise und intim ihr Seelenleben hier wiedergegeben worden sei.

Eine Mischung aus Boshaftigkeit und Faszination hält das Buch bis zu seinem dann doch fiktiven Ende in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis: Zweifellos sind da begnadete Zyniker am Werk, deren Politikverständnis eher an Viehtreiberei erinnert. Aber wenn der Autor mit großer Intensität Stantons bewegende Auftritte vor Hafenarbeitern oder Analphabeten-Schulklasse schildert, dann kann der Leser am eigenen Leibe nachvollziehen, warum sich idealistische und sympathische Menschen wie Henry Burton immer wieder auf ein Geschäft einlassen, das gemeinhin als ein schmutziges gilt.

Doch wie schmutzig ist das Geschäft nun wirklich? Bei allen Schwächen, die Stanton mehr als einmal das Genick zu brechen drohen, bleibt eines klar: Der Kandidat, dieses wandelnde Krisengebiet, ist ein Mann, der seinen Job aus tiefem Herzen liebt und einen fast erotischen Kontakt zum Volk hält – und das eben nicht nur im Bett, sondern auch beim Händeschütteln und Fragenbeantworten in den riesigen Einkaufspassagen der tristen Vorstädte. Er ist kein Papiertiger wie so mancher Roman- oder Realpolitiker, er ist ein fluchender Überzeugungstäter voller schillernder Widersprüche.

Die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Volksvertretung und Populismus gerät bei Stanton schnell ins Schwimmen. Er ist ein Mann, der sagt, was sein Publikum hören will, aber eben auch deshalb, weil er dieses Publikum ehrlich respektiert und liebt. Und so sagt er den Leuten, daß sie Politikern nicht trauen können und genießt den Beifall, den er dafür bekommt.

Am Ende bleibt die Ahnung, daß vielleicht nur ein Mensch, der einen solchen „Scheißesturm“ an Verleumdungen und Enthüllungen durchstehen, der so viele Tief- und Rückschläge einstecken mußte, überhaupt erst das Format erlangen konnte, um einem solchen Amt gewachsen zu sein. Es bleibt offen, ob dies auch für Henry Burton gilt: Ob er in die Dienste des Kandidaten zurückkehren wird, und ob das eigentlich wirklich eine moralische Niederlage wäre.l

JAN NOEVENTHIEN, Mai 30, 1996

Anonymus: „Mit aller Macht“. List. 480 Seiten. 44 Mark.