In Joghurtgewittern — Gefechtserfahrungen im Golf

Mit dem Ende der Wehrpflicht ist seit heute auch der Zivildienst Geschichte. Was der Gesellschaft dadurch verloren geht, beleuchtet Jan Kutter.

Heute werden in Deutschland die letzten Zivildienstleistenden in die Freiheit entlassen. Millionen männlicher Mitmenschen haben seit 1961 während ihres Ersatzdienstes sogenannte »wertvolle Erfahrungen« gesammelt, die sie »auf gar keinen Fall missen« möchten. So lautet die offizielle Sprachregelung aller ehemaligen Zivildienstleistenden — zumindest hinterher. Seit Tagen nun sind die Feuilletons voll von Erinnerungen ehemals zivildienstleistender Redakteure, die gewiss nicht zum ersten Mal ihre »wertvollen Erfahrungen« teilen, und da möchte ich natürlich nicht zurückstehen.

Auf einmal ging alles sehr schnell. Der junge Kollege Bessmann hatte gerade den Wagen an der roten Ampel gestoppt, als sich plötzlich die Türen des vor uns stehenden Golfs öffneten. Zwei junge Männer sprangen heraus. Ich wusste, was passieren würde. »Los, Zentralverriegelung!«, rief ich. Hektisch griff ich nach hinten und kramte im Rückraum des Wagens. Die Männer standen bereits vor uns. Sie holten aus und warfen zwei Yoghurt-Packungen auf unsere Windschutzscheibe, die sogleich zerplatzten. »Die Arschlöcher!«, schimpfte Bessmann und schaltete die Scheibenwischer ein, deren Gummiwischblätter den Kleister nun kreuz und quer über die Scheibe schmierten. Als wir endlich wieder etwas erkennen konnten, waren die Angreifer längst wieder in ihren Wagen gesprungen und losgefahren. Die Ampel stand auf grün. Alle um uns herum fuhren los, bloß wir nicht. Ich hatte derweil gefunden, wonach ich gesucht hatte. »Hab’ einen«, rief ich, »Bessmann, gib Gas!«

Bessmann ließ die Reifen quietschen. Es ging rauf auf die Hochstraße, und jetzt zahlte sich endlich einmal aus, dass wir die Überland-Tour fuhren: Die Tour war unbeliebt, weil sie länger war als alle anderen, aber dafür hatten wir den Turbo-Diesel, den schnellsten Wagen im Fuhrpark. Bessmann holte mühelos auf, während ich das Beifahrerfenster herunterkurbelte. Nur einen Augenblick später zerbarst ein Schoko-Pudding von Puddis, einer Marke, die wir seltsamerweise immer in kyrilischer Beschriftung geliefert bekamen, oben links auf der Windschutzscheibe des gegnerischen Golfs. Ein zweiter klatschte auf die Essen auf Rädern-Werbetafel. »Ja, noch einen!«, rief Bessmann, dessen Laune sich augenblicklich gebessert hatte. »Nix, wir hauen ab«, beschied ich, zufrieden mein Werk im Rückspiegel betrachtend. Schließlich wurde ich gern als Stimme der Vernunft den eher unverlässigen Fahrern zugeteilt. Aufgrund meines gesetzten Alters und eines abgeschlossenen Universitätsstudiums galt ich als Respektsperson. Die Kollegen im gegnerischen Golf hatten genug.

Wegen eines angeblichen Nierenschadens, den das Kreiswehrersatzamt ohne mein aktives Zutun und zu meiner eigenen Überraschung feststellte, aber später — ebenso wie der Urologe aus dem Nachbarstädtchen — nicht mehr wiederfinden konnte, gelangte ich erst mit etlichen Jahren Verspätung als Zivildienstleistender zu Essen auf Rädern. Was ich nicht wusste: Diese ruhmreiche Einrichtung, die sich den konsequenten Vitaminentzug der greisen Bevölkerung mittels Lieferung erkalteter Fertigspeisen auf die Fahnen geschrieben hatte, ist die erste Anlaufstelle für die Autonarren (vulgo: die Bekloppten) unter den Kasernatsverweigerern.

Was die einschlägigen, gewissen Gewissensgründe betraf, die glaubhaft herangeführt werden mussten, um die Berechtigung für das Privileg eines extralangen Zwangsdienstes bescheinigt zu bekommen, bewiesen die Essenausfahrer jeden Tag aufs neue, dass sie keinerlei moralischen Probleme damit hätten, notfalls auch mit einem Panzer rücksichtslos über jedes Hindernis hinwegzuwalzen, sofern nur der Motor dabei kräftig röhrte. Eine These, die sich durch die eindrucksvolle innerbetriebliche Unfallstatistik jederzeit belegen ließ, von den Joghurt-Schlachten auf offener Straße ganz zu schweigen. Diese wurden meist mit der Konkurrenz vom kommerziellen Menü-Bringdienst ausgetragen, doch manchmal gerieten auch die eigenen Kollegen in »friendly fire«. Wir waren eine Gemeinschaft, die unter Zwang von einer undurchsichtigen Bürokratie zusammengeführt worden war. Wir waren nicht alle Freunde.

Vom Dienststellenleiter wurde ich nicht nur schnell als dufte Respektsperson, sondern auch als Intellektueller ausgemacht, was bedeutete, dass ich die festangestellten Kolleginnen im Büro unterstützen durfte. Dort beruhigte ich nicht nur alte Damen am Telefon, die sich Sorgen wegen der kyrillischen Beschriftungen auf dem Nachtisch machten (»Nein, Frau Wöhler, der Russe ist nicht da. Noch nicht!«), sondern nahm auch die regelmäßigen Beschwerden aufgebrachter Verkehrsteilnehmer entgegen und versprach, die gemeldeten Übeltäter (»Ich wiederhole noch einmal das Kennzeichen, das Sie mir genannt haben, damit wir auch ja den richtigen erwischen!«) einer gerechten und vor allem harten Strafe zuzuführen. Erst der fortgesetzte Verzicht hierauf freilich begründete meinen internen Status als Respektsperson — dies und die Tatsache, dass ich den Schlüssel für die Tiefkühlkammer verwaltete, in der verbotene Extraportionen für den Hunger zwischendurch lockten, die im Konvektomaten verzehrfertig gemacht werden konnten, sowie streng wissenschaftliche Panik-Experimente durchgeführt werden konnten. Dass so eine begehbare Kühlkammer keinen Notöffnungsmechanismus im Innern hatte, konnte doch eigentlich gar nicht zulässig sein — da konnte der ISO-zertifizierungsbegeisterte Geschäftsführer noch so viele Qualitätszirkel abhalten.

So war das im Zivildienst. Wenn alle Essens-Portionen ausgeliefert waren, teilte sich die Belegschaft der Dienststelle auf. Ein Teil unterstützte die Sozialen Mobilen Hilfsdienste bei der Seniorenbetreuung, ein anderer lieferte Getränkekisten für den Schwesterdienst Getränke auf Rädern aus. Natürlich sammelte man wertvolle Erfahrungen, tatsächlich möchte ich sie nicht missen — jetzt, wo alles lange vorbei ist. Aber während der Dienstzeit, die ja bei aller Einsicht in die Sinnhaftigkeit der sozialen Tätigkeiten immer auch eine Zwangsdienstzeit war, wurden die Tage gezählt, und zwar rückwärts. Zumindest darin unterschieden sich Zivildienst und Wehrdienst nicht nennenswert voneinander.

Meine VW-Golf-Kriegserlebnisse hatte ich beinahe vergessen, als ich vor einiger Zeit bei einem gesellschaftlichen Ereignis mittlerer Tragweite von einem Offizier der Reserve, der sich in Friedenszeiten als hochrangiges Mitglied der deutschen Rechtsprechung durchschlagen musste, gefragt wurde, ob ick denn wohl jedient hätte. »Selbstverständlich!«, antwortete ich schneidig, »bei Essen auf Rädern!« Der damalige OLG-Präsident machte auf dem Absatz kehrt und würdigte mich keines weiteren Blickes. Ich bezweifle allerdings, dass seine Gefechtserfahrung nennenswert an meine heranreicht.

JAN NOEVENTHIEN, Dezember 2011

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